Wort für den Monat September 2005

Jesus Christus spricht: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. (Lukas 12,15)

Liebe Leserin, lieber Leser,

eigentlich müsste man die Bibel verbieten. Denn wenn man sie ernst nimmt, verträgt sie sich weder mit den Werten der EU noch mit denen einer freien Wirtschaft und gefährdet unsere westliche Welt mehr als alle Terroristen.

Das zeigt der Monatsspruch. Unverantwortlich von den Verantwortlichen, die gemeint haben, man könne diesen Vers als erbaulichen Monatsspruch nehmen. Haben die nicht daran gedacht, dass dieser subversive Spruch in allen Gemeindebriefen und sogar beim CVJM im Web steht und ausgelegt wird?

HABGIER ist der Motor der Wirtschaft. Wenn der reiche Kornbauer im folgenden Gleichnis nicht habgierig gewesen wäre, hätte er nicht mehr angebaut, als er und seine Familie zum Leben brauchten. Stattdessen hatte er alle Äcker seines Dorfes an sich gerissen, die Dorfbevölkerung für Hungerlöhne als Hilfskräfte beschäftigt und die Ernteüberschüsse nach Rom verkauft. Hätte er nach der Superernte nicht höhere Löhne und Gewinnbeteiligung zahlen können statt größere Scheunen zu bauen, um sich seine Rente zu sichern?

Was Jesus da Habgier schilt, nennen wir heute Wirtschaftswachstum. Wir brauchen das um die Wirtschaft in Gang zu halten: Da produziert jemand Spielzeugfiguren, kann eine Menge davon verkaufen und muss seinen Betrieb vergrößern. Das gibt mehr Arbeitsplätze. Die Leute verdienen mehr Geld und können jetzt endlich auch die Spielzeugfiguren kaufen, die sie herstellen. Ein Anreiz, noch mehr zu produzieren, noch mehr zu verdienen, noch mehr zu kaufen. Und angenehmer Nebeneffekt: Die Rentenkassen werden gefüllt und für die Riester-Rente reicht's auch noch. Cool! Bloß: Wozu brauchen wir so viele Spielzeugfiguren? Ist das der Sinn des Lebens? Und was geschieht, wenn der Markt übersättigt ist, die Kinderzimmer überfüllt und die Mülltonnen auch?

Lieber Herr Jesus, vielleicht hattest du ja doch nicht so Unrecht mit deiner Warnung vor Habgier. Gibt's keine anderen Wirtschaftsmodelle als immer mehr haben wollen?

Das ist nicht der einzige subversive Spruch, den Jesus von sich gegeben hat. Wie wär's etwa damit: "NICHT HERRSCHEN, SONDERN DIENEN"? Wie soll man da noch Politik machen und Wahlen gewinnen? Machtgier ist die Triebkraft der Politik. Wer bloß dienen und nicht auch regieren will, hat kaum eine Chance gewählt zu werden. Wer nicht bereit ist, sich auf Kosten anderer durchzusetzen und die Erfolgsleiter hochzuklettern, kommt zu nichts, im Beruf nicht, in der Wirtschaft nicht und auch nicht in der Politik.

Lieber Herr Jesus, du hast doch selbst erlebt, wie das ist, wenn man Einfluss will ohne Machtansprüche zu stellen. Da wird man untergebuttert oder gekreuzigt. Und doch ist Verzicht auf Macht die einzige Alternative für eine menschenwürdige Welt.

Und wie wär's damit: "SCHLAG NICHT ZURÜCK, SONDERN HALT DEN ANDEREN BACKEN AUCH HIN"? Nicht immer geht das gut. Sollen wir tatenlos zusehen, wie die Terroristen Unschuldige in die Luft jagen? Sollen wir tatenlos dulden, dass Schurkenstaaten die eigene Bevölkerung misshandeln? Obwohl: Warum engagieren wir uns im ölreichen Orient und nicht auch im armen Afrika? Sind das vielleicht bloß Wirtschaftsunteressen und nicht etwa edler Sinn für Gerechtigkeit?

Lieber Herr Jesus, du hast nicht nur gepredigt, sondern deine eigenen Backen hingehalten, deinen eigenen Körper. Können wir bei dir was lernen?

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner