Gedanken zum Erntedankfest 2006

Liebe Leserin, lieber Leser,

endlich haben wir wieder schönes Wetter nach einem verregneten August. Vor einem Monat dachten wir vielleicht noch anders: "War auch Zeit, dass es mal wieder geregnet hat nach dem heißen und trocknen Juli." Das Wetter ist ein unerschöpflicher Gesprächsstoff. Können wir dafür auch dankbar sein? Das Erntedankfest gibt uns Anlass, darüber nachzudenken.

Wir machen einen Unterschied zwischen "dankbar sein" und "danken". Dankbar sein ist ein Zustand, vielleicht eine Stimmung oder ein Gefühl. Wir spüren, dass wir etwas nicht verdient haben, sondern dass es uns geschenkt wurde. Danken dagegen ist eine Tätigkeit: Wir bringen einem Wohltäter gegenüber zum Ausdruck, dass wir uns über das freuen, was er für uns getan hat.

Das Gegenteil von beidem ist undankbar sein. Wir machen uns keine Gedanken darüber und tun so, als ob nichts gewesen wäre. Wir vergessen nicht nur, Dankeschön zu sagen (das wäre ja nur eine Formalität), sondern kümmern uns nicht drum, dass wir gegenüber unserem Wohltäter Verpflichtungen haben.

Nehmen wir den ersehnten Regen und nahmen wir das ebenso erwünschte Sommerwetter gedankenlos hin? Schimpfen wir vielleicht sogar drüber: "Ausgerechnet heute…"? Oder freuen wir uns drüber? Bringen wir unsre Freude in einem "Dankeschön" zum Ausdruck?

Es gibt übrigens von Natur aus kein schlechtes Wetter Regen und Sonne, Kälte und Wärme, Windstille und Sturm sind notwendige Faktoren im Gefüge der Schöpfung, ob sie uns passen oder nicht. Wer gibt uns das Recht, z.B. Sonnenschein schön und Regen schlecht zu nennen? Ein Araber erklärte mir mal, er freue sich auf den Winter, weil's da regnet.

Wer gibt uns überhaupt das Recht zu beurteilen, was für uns gut oder schlecht ist? Nicht alles, was weh tut, ist schlecht, und nicht alles, was angenehm ist, ist gut. Zucker ist süß, aber er schadet den Zähnen und ist auch sonst ungesund. Geburtswehen sind unangenehm, aber die Grundlage von allem menschlichen Leben. Wir müssen lernen, von unseren eigenen, beschränkten Bedürfnissen abzusehen und das gesamte Gefüge der Schöpfung in den Blick zu kriegen. Wir müssen lernen, für alles dankbar zu sein, auch für das, was uns nicht gefällt.

Eduard Mörike hat das anscheinend verstanden, wenn er betet:
"Herr, schicke, was Du willst,
ein Liebes oder Leides.
Ich bin vergnügt, dass beides
aus Deinen Händen quillt."

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner