Genieße jeden Tag

Liebe Leserin, lieber Leser,

neulich schickte mir eine Bekannte einen längeren, gut präsentierten Text unter dem Titel "Genieße jeden Tag". Warum die angenehmen und schönen Dinge im Leben auf morgen verschieben, das neue Kleid für bessere Gelegenheiten aufheben und daheim die alten Klamotten auftragen? Warum nicht das geschenkte Buch heute schon lesen und nicht erst, wenn ich mal Zeit habe? Wer weiß, was morgen ist?

Das klingt gut, gell? Ich habe mich herzlich dafür bedankt und ihr die Geschichte von einem Mann erzählt, den ich kurz vor seinem Tod besucht hatte. Er bereute, dass er sich so wenig Zeit für seine Familie genommen hätte. Ich meinte: "Aber Sie hatten doch so viel zu tun in Beruf und Ehrenamt!" Müde winkte er hab, das sei gar nicht so wichtig gewesen, wie er geglaubt hatte.

Der Text vom Genießen hat mir zu denken gegeben. Ich kannte diesen Spruch schon aus der Schule, soll von einem alten Philosophen stammen und muss eigentlich "pflücke den Tag" übersetzt werden. Ich hatte das immer so verstanden: Nimm die kleinen Schönheiten und Annehmlichkeiten wahr, die sich dir bieten. Man muss ja nicht gleich fremde Blumen klauen, aber bleib doch mal stehen und bewundere die Schönheit einer Rose oder einer unscheinbaren Feldblume. Geh nicht achtlos dran vorbei und ehre den, der sie erschaffen hat.

"Pflücke den Tag", das hat für mich aber immer auch bedeutet: Nutze die Gelegenheit das zu tun, was jetzt gerade notwendig ist und verschiebe es nicht auf später. Mir fällt dazu ein weiteres Erlebnis aus meiner Dienstzeit ein: Ich war gerade unterwegs, hatte eigentlich etwas ganz Anderes vor, da fuhr ich am Haus eines "meiner Alten" vorbei, von dem ich wusste, dass es ihm nicht gut ging. Ich kam auf die Idee, mal reinzuschauen, da lag er am Sterben. Gerade noch die letzte Gelegenheit, ihn noch einmal zu sehen. Wie oft werde ich die innere Stimme überhört und solche Gelegenheiten verpasst haben?

Es gibt wohl kein Patentrezept, wie man sich richtig verhält. Der Ehrenamtliche hat es bereut, dass er sich zu sehr engagiert und darüber seine Familie vernachlässigt hat. Ich habe manchmal bereut, dass ich wichtige Pflichten versäumt habe. Ich habe aber noch nie bereut, dass ich ein Vergnügen, das sich mir bot versäumt habe. Dazu eine dritte Geschichte, wieder von einem Toten: Wir wollten eigentlich ins Theater und ich hatte mich gerade fein gemacht, da kam ein Anruf vom katholischen Gemeindehelfer: Er war in eine katholische Familie gerufen worden, in der jemand tödlich verunglückt war. Die Witwe war evangelisch, ob ich das machen könne? "Pflücke den Tag", aber was, den sauren Apfel oder die süße Birne? Was geht mich der katholische Tote an? Soll ich die Theaterkarte verfallen lassen? Soll ich meinen Kollegen fragen? Nein, das war meine Aufgabe, alles andere als angenehm, und ich habe sie übernommen.

Auch Jesus hat sich über die Blumen am Wegrand gefreut, über eine Einladung und ein gutes Gespräch. Er hat das Leben so genossen, dass man ihn "Fresser und Weinsäufer" gescholten hat. Aber er sah darin nicht seine Aufgabe, sondern er wollte für andere da sein und hat sich schließlich für uns aufgeopfert. Er war mir immer ein Vorbild.

Zum neuen Jahr wünsche ich dir Gottes Segen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner