Monatsspruch März 2007

Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. (Römer 8,18)

Es war einmal ein schöner großer Lindenbaum, der stand am Brunnen vor dem Tore. Man hatte eine Bank um ihn herum aufgestellt. Müde Wanderer nahmen darauf Platz, verliebte Pärchen saßen abends darauf und flüsterten einander zärtliche Worte zu. Herzen mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen schnitten sie in die Rinde "für immer und ewig".

Dann kam der große Sturm und riss die schöne Krone auseinander. Dicke Äste brachen ab. Der Baum war nicht mehr zu retten. Mit Axt und Säge machten sich die Dorfbewohner in den nächsten Tagen an die Arbeit und fällten die Linde. Gestern noch ein lebendiger Baum, heute Brennholz, morgen Rauch und Asche – das Schicksal allen Lebens.

Schon war man dabei, das Holz in handliche Stücke zu zersägen, da kam ein Fremder daher, der fragte sich zum Schultheißen durch, stellte sich vor als Meister Riemenschneider, Bildhauer, und bot 20 Gulden für die Reste des Baumes. Die Bauern halfen ihm, das Holz in ein Sägewerk zu bringen. Dort wurde es in mehrere dicke Bohlen zersägt.

Was der arme Baum alles mitmachen musste! Der Verlust seiner Krone: schmerzlich und traurig zugleich. Was wird er empfunden haben, als er mit Axt und Säge von seiner Wurzel abgetrennt wurde? Dann die Qualen im Sägewerk! Am schlimmsten aber die Tortur, die Meister Riemenschneider den Bohlen antat: Mit Hammer und Stemmeisen und Schnitzmesser löste er Span und Span aus dem weichen Holz, maß, prüfte und verglich mit seinem Entwurf und setzte wieder und wieder das Eisen an – soll denn die Schinderei kein Ende nehmen?

Nach endlosen Monaten schließlich war er fertig. Aus dem Holz des gefallenen Baumes war ein Kunstwerk geworden, ein geschnitztes Altarbild mit einer Darstellung von der Einsetzung des Abendmahls. In einer fränkischen Kirche wurde es aufgestellt und wird heute noch, Jahrhunderte später, von Kunstexperten bewundert.

Liebe Leserin, lieber Leser,

so macht es Gott auch mit uns. Als rohe Klötze hat er uns erschaffen und in die Welt gestellt, ungehobelt und ohne Profil. Hat er uns so haben wollen? Sicher nicht. Denn bald hat er wie Meister Riemenschneider angefangen, diese rohen Klötze zu bearbeiten. Oder besser gesagt, sie bearbeiten zu lassen. Durch das Leben. Durch andere Menschen. Span um Span musste fallen, damit wir dem ähnlich wurden, was Gott sich bei unsrer Erschaffung gedacht hatte. Wir sind noch nicht, wie wir sein sollen, aber Tag für Tag können wir dem Entwurf Gottes ähnlicher werden.

Durch Leiden zur Herrlichkeit! Paulus hat das schön formuliert. Und eines Tages werden wir fertig sein und unserm Schöpfer zurückgegeben werden. Dann wird er uns in die Hand nehmen und begutachten: "Schön, mein Lieber, meine Liebe, dass du wieder zu mir zurückgefunden hast, lass dich mal anschauen, was aus dir geworden ist: Prima, so habe ich mir das gedacht. Es hat lange gedauert und war für dich sicher oft sehr schmerzhaft, aber jetzt habe ich dich genauso, wie ich dich haben wollte. Willkommen daheim!"

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner