Monatsspruch Juni 2008

Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden. (2. Mose/Exodus 15,2)

Liebe Leserin, lieber Leser,

das "Mirjamlied" Exodus 15,1 ist einer der ältesten Texte der Bibel, entstanden als unmittelbare Reaktion auf das, was die Israeliten am Schilfmeer erlebt hatten: "Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt." Danach folgt ein längerer Psalm, der dieses Wunder besingt und Mose zugeschrieben wird. Am Ende wiederholt Mirjam, Moses Schwester, den Eingangsvers und die Frauen singen ihn mit Tamburinbegleitung. Das müssen wir uns so vorstellen, dass sie diesen Text endlos mit Variationen gesungen und dabei getanzt haben.

Ähnlich empfing man nach siegreicher Schlacht die überlebenden Krieger. Nur dass hier nicht Israel gekämpft hatte, sondern Gott allein. Schon vorher hatte Mose angekündigt: "Der Herr wird für euch streiten und ihr werdet stille sein." (Exodus 14,14)

Was war geschehen? Wir kennen die filmreife Geschichte, wie Mose das Rote Meer, genauer den Golf von Suez gespalten hat. Aber in der Erzählung Exodus 14 ist noch eine ältere Version zu erkennen, wonach die Israeliten am Schilfmeer lagerten und am Morgen die toten Ägypter am Strand fanden. Das heißt, sie waren wirklich "stille", verhielten sich passiv und waren am Morgen überrascht. Über Nacht hat Gott eine drohende Gefahr abgewendet, ohne dass sie es merkten.

Und wo bleibt das Wunder? Das Wunder war nicht, dass die Ägypter auf übernatürliche Weise ertranken, sondern zur rechten Zeit. Die Israeliten fühlten sich bedroht und waren jetzt gerettet. Gerade noch mal gutgegangen!

Solche Wunder der Rettung haben wir doch schon alle erlebt. Ich auch. Es fing an zu schneien, als ich mit dem Auto unterwegs war. Ich fuhr aus einer Ortschaft heraus und beschleunigte gewohnheitsgemäß. Da merkte ich: Ich war viel zu schnell, trat auf die Bremse, kam ins Schlingern und rutschte auf ein Verkehrsschild zu. Genau eine Handbreit davor kam ich zum Stehen. Hab's nachgemessen. So als ob einer die Hand dazwischen gehalten hätte. Der Wagen stand quer. Zum Glück war kein Verkehr, ich stieg ein und fuhr weiter. Das lässt sich wohl alles genau erklären, aber ich habe es als Wunder erfahren.

Nicht immer merken wir etwas davon, wie wir bewahrt werden. Das meiste geschieht wahrscheinlich sogar ohne unser Wissen. Wir beten im Vaterunser "und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen": Wie oft habe ich einer Versuchung nicht widerstehen müssen, weil ich gar nicht in so eine brenzlige Lage gekommen bin, also nicht "in Versuchung geführt" wurde. Wenn ich darüber nachdenke, wundere ich mich, wie wenig mir böse Menschen und andere Widrigkeiten anhaben konnten.

Es ist wahr: "Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden."

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner