Monatsspruch Januar 2010

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (5. Mose/Deuteronomium 6,5)

Liebe Leserin, lieber Leser,

Abraham glaubte, Gott über alles zu lieben, als er seinen einzigen Sohn opfern wollte (Genesis 22). Mose glaubte, Gott über alles zu lieben, als er den Leviten befahl, ein Blutbad unter den Israeliten anzurichten, die das Goldene Kalb angebetet hatten. (Exodus 32,25-29). Elia glaubte, Gott über alles zu lieben, als er die heidnischen Baalspropheten eigenhändig hinrichtete. (1. Könige 18,40). In vielen Geschichten erzählt die Bibel, wie Menschen im Eifer für Gott über Leichen gingen. Unser Jesus hat Gewalt abgelehnt und selbst lieber Unrecht gelitten als Unrecht getan – beispielhaft dargestellt in der Geschichte vom "ungastlichen Samariterdorf" (Lukas 9,52-56) und grundsätzlich in der Bergpredigt (Matthäus 5,5.9.39). Aber unsre Mitchristen haben sich nicht immer daran gehalten.

Diese Gewaltexzesse werden von Atheisten gegen das Christentum und Religion überhaupt angeführt. Ich orientiere mich aber nicht an diesen negativen Beispielen, sondern an den positiven Vorbildern, schon im Alten Testament: Elisa brachte das Kunststück fertig, einen Trupp feindlicher Krieger zu "blenden", so dass sie hinter ihm her getrottelt sind bis in die israelitische Hauptstadt. Auf dem Marktplatz gingen ihnen die Augen auf und sie fanden sich von israelitischen Soldaten umzingelt. Der König wollte sie töten lassen, aber Elisa setzte sich dafür ein, dass sie Proviant bekamen und entlassen wurden (2. Könige 6). Bonifatius hat sich in hohem Alter in Friesland von heidnischen Fanatikern widerstandslos erschlagen lassen und den christlichen Friesen verboten ihn zu verteidigen. Das sind nur zwei Beispiele, eins aus der Bibel und eins aus der Zeit danach. Es gibt noch unzählige andere – die sollten wir uns zum Vorbild nehmen und sie erwähnen, wenn man heute versucht, uns unseren Glauben madig zu machen.

Schon Jesus hat ja in seiner Zeit gesehen, wie falsch verstandene Gottesliebe in unmenschlichen Glaubenseifer ausarten kann. Darum bindet er die Gottesliebe untrennbar an die Nächstenliebe (Markus 12,29-31). Wer sich zu Jesu hält, kann sich gar nicht aus Liebe zu Gott in einen Fanatismus hineinsteigern, der über Leichen geht, weil er auch der Menschenliebe verpflichtet ist.

Wir Christen in Deutschland greifen nicht mehr im Namen Gottes zur Waffe. Das waren Entgleisungen der Vergangenheit, die wir missbilligen. Wir unterliegen heute vielmehr der umgekehrten Gefahr: Dass wir uns auf die caritative Nächstenliebe beschränken und Gott dabei ganz vergessen.

Ich entsinne mich an ein Gespräch, das ich vor Jahrzehnten mit einem Kollegen hatte: "Kann man einen Menschen zu sehr lieben?" Er meinte: Nein. Ich kann mich an Einzelheiten nicht mehr erinnern. Aber seitdem bin ich überzeugt, dass man es mit der Liebe auch übertreiben kann. Beispiel in einer Partnerschaft: Wenn man von seinem Partner alles erwartet, die Erfüllung des Lebens, Glück und Seligkeit, überfordern wir ihn nicht nur, sondern setzen ihn an die Stelle Gottes und machen ihn zum Götzen. Genauso, wenn man einem Menschen hörig wird und ihm nichts Eigenes mehr entgegensetzen kann. Oder wenn man seinen Kindern keine Grenzen setzt und das auch noch mit Liebe verwechselt.

Nur eine starke Persönlichkeit ist fähig zur Liebe. Ein Paar, das sich aneinander festklammert und aneinander Halt sucht, ist schwach. Jeder muss so stark werden, dass er selbst fest steht und dem Anderen im Notfall Halt geben kann. Diese Stärke gewinnen wir durch den Glauben und die unbedingte Liebe zu Gott. Besser gesagt: indem wir uns von der Liebe Gottes füllen lassen, bis wir randvoll sind und überlaufen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner