Monatsspruch November 2011

Gut ist der Herr, eine feste Burg am Tag der Not. Er kennt alle, die Schutz suchen bei ihm. (Nahum 1,7)

Liebe Leserin, lieber Leser,

"ein feste Burg ist unser Gott" (EG 362), das Schutz- und Trutzlied Martin Luthers, galt in meiner Jugend als d a s "Reformationslied". Da lief mir eine Gänsehaut über den Rücken, wenn wir es am Reformationsfest stehend sangen und uns an den Händen fassten. Wir standen Hand in Hand, wie eine Schutzmauer der "festen Burg" selbst und schmetterten die Strophen gegen unsre eigene Unsicherheit einem unsichtbaren Gegner ins Gesicht, dem "altbösen Feind" und der "Welt voll Teufel". "Das Wort (Gottes) sie sollen lassen stahn (stehen)", haben wir geschmettert, gegen alle Feinde des Evangeliums und die Welt überhaupt. Und vielleicht etwas leichtsinnig: "Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie haben's (es = dessen, davon) kein Gewinn. Das Reich muss uns doch bleiben." Die Alten wussten vielleicht, was sie sangen, ich junger Bursche noch nicht. Sie haben's unter den Nazis im Kirchenkampf und im Krieg erlebt und erlitten.

Die Gänsehaut, glaubte ich damals, kommt vom Heiligen Geist. Bald aber merkte ich, dass man mit psychologischen Tricks Gefühle manipulieren und Begeisterung wecken kann. Manche Prediger verstanden sich auf "Seelenmassage", auf eindringliche Appelle , die Gänsehaut erzeugten: "Bekehre dich noch heute. Wer dazu bereit ist, komme nach vorn." Und sie kamen, erst Einzelne, zögerlich, dann immer mehr. Große Bekehrungserfolge! Was ist aus diesen Menschen geworden?

Später lernte ich: Gänsehaut entsteht, wenn sich die Haare auf den Schultern und dem Rücken sträuben, bei Katzen, Gorillas wie bei uns Menschen. Wir spüren eine Gefahr und plustern uns auf, um größer zu erscheinen. Wir spüren auch, wenn sich den Menschen neben uns aufplustern und machen es ihnen nach. Gänsehaut erzeugt Gemeinschaftsgefühl. Gemeinsam sind wir stark. Sollen sie doch kommen, wir halten zusammen und lassen uns nicht unterkriegen! Man muss das nicht so negativ sehen mit den Gefühlen und muss nicht jeden Hauch von "Gefühlsduselei" unterbinden.

Gibt es dieses Gemeinschaftsgefühl heute noch? Die moderne Lebensweise macht uns zu kritischen Individualisten, Einzelkämpfern. Mit zunehmender Intelligenz, Bildung und Verantwortung sind wir gezwungen, unsern eigenen Weg zu gehen und selbst dafür gerade zu stehen. Einmütigkeit ist kaum noch möglich, man sieht's in der Politik. Konkurrenz- und Leistungsdruck und der damit verbundene Ehrgeiz machen es uns nicht leichter. Es gibt immer weniger echte Gemeinschaft, nur "Seilschaften", Zusammenarbeit in Einzelfällen, die bei der nächsten Gelegenheit wieder aufgelöst werden. Ich will mich nicht über die allgemeinen Zustände beklagen. Mein Lebensweg war ja genauso. Zum Glück habe ich meine Familie.

Die "Feste Burg" Luthers ist nicht dieser Prophetenstelle nachempfunden, sondern dem 46. Psalm, welcher Hoffnung ausdrückt, dass Jerusalem, die "Stadt Gottes", samt seinen Bewohnern allen Bedrohungen durch fremde Eroberer standhalten wird. Denn "Gott (der Tempel) ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben" - eine Illusion, wie die Propheten erkannten und wie die Geschichte gezeigt hat.

"Gut ist der Herr, eine feste Burg am Tag der Not. Er kennt alle, die Schutz suchen bei ihm." Da ist nicht mehr von einem geographischen Ort wie Jerusalem die Rede, auch nicht von einer konkreten Personengruppe wie den Bürgern dieser Stadt, sondern von Einzelmenschen, "die bei ihm (Gott) Schutz suchen" bzw. nach Luther: "die auf ihn trauen". Im Bild ist eher an eine der Höhlen im Gebirge zu denken, in die sich David vor den Nachstellungen Sauls zurückgezogen hatte, schwer zu finden und leicht zu verteidigen, relative Sicherheit, aber ohne unrealistischen Garantien wie in Psalm 46. Diese "Festen" (Luther) waren Rückzugsgebiet von Menschen, denen man das Leben zur Hölle machte. So bietet Gott Schutz denen, die keinen Ausweg mehr sehen: In der Bibel finden sie Trost und Wegweisung. Wenn sie beten, können sie sich vor einer unparteiischen Instanz aussprechen. Sie finden vor Gott Gehör und Hilfe, aber nicht unbedingt das Recht, in dem sie sich glauben. Sie merken beim Beten schon selbst, was da schief gelaufen ist und was sie selbst falsch gemacht haben. Im Gebet können wir unsre Gedanken klären, Auswege finden - und nicht zuletzt auch wunderbare Hilfe erfahren.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner