Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. (Matthäus 5,20.48)

Liebe Leserin, lieber Leser,

auch im Februar möchte ich Jesus selbst zu Wort kommen lassen. Er mutet uns viel zu: vollkommen zu werden wie Gott.

Besser zu sein als die Schriftgelehrten und Pharisäer, die bibeltreuen Gutmenschen von damals, scheint leicht, das waren doch eingebildete und kleinliche Haarspalter, Vorschriftenmacher, Besserwisser. Darüber sind wir so hoch erhaben, dass wir fast selbst in Versuchung kommen, eingebildet zu werden und andere zu verachten. Aber vollkommen sein wie Gott?

Ich spüre, wie's in mir arbeitet und rumort. Was uns von Gott unterscheidet, sind doch nicht unsre Fehler und Sünden, sondern da ist ein wesensmäßiger Unterschied: Gott ist ewig und wir sind dem Wandel der Zeit unterworfen, wie die Mode: heute topaktuell - morgen ein Ladenhüter, heute nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und gut - morgen grad falsch. Solange wir in der Zeit leben, ist alles fragwürdig, falsch, vergeblich, was wir denken, reden, tun, leben.

War denn Jesus vollkommen? In diesem Sinn nicht, denn auch er wurde geboren und musste sterben. Auch er war der Zeit und Vergänglichkeit unterworfen. Aber er war doch wenigstens "ohne Sünde" (Hebräer 4,15), oder? Nein, nicht so, wie man sich's vorstellt. Auch Jesus hat Fehler gemacht und dazugelernt (wie bei der kanaanäischen Frau, Markus 7,24-30). Aber er hat Ernst damit gemacht, dass Gott barmherzig ist und Sünden vergibt. Er war ohne Sünde, weil Gott auch ihm vergeben hatte, und weil er in dem einen bekannten Fall dem Versucher widerstand (Matthäus 4,1-11).

Es ist faszinierend, wie Jesus zwischen Matthäus 5,20 und 48 die Zehn Gebote und volkstümliche Moral kritisch unter die Lupe nimmt. Er fragt grundsätzlich nicht: "Was steht da?", sondern "Was hat sich Gott dabei gedacht?".

Beispiel: "Du sollst den Namen Jahwes nicht missbrauchen", also auch nicht "bei Jahwe" falsch schwören. Man diskutierte andere Formeln, mit denen man eine Aussage oder ein Versprechen bekräftigen konnte. Dagegen Jesus: Wer bei der Wahrheit bleibt, hat es nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass er nicht lügt. Wer etwas beteuert, gibt zu, dass er auch lügen könnte. "Ja, ja", mehr erlaubt Jesus nicht und erlaubte sich auch nicht mehr als: "Amen, wahrlich, ja, ich sage euch".

Jesus geht's also zwar ums Grundsätzliche, aber das schließt auch Kleinigkeiten unsres Verhaltens ein. Bloß dürfen wir nicht meinen, wenn wir uns streng an die "Ja, Ja"-Regel hielten, hätten wir den Willen Gottes erfüllt. Wer Gott liebt, strebt nach Wahrheit, bleibt bei der Wahrheit und klammert sich nicht an Formulierungen.

"Vollkommen" werden wir dadurch, dass wir uns wie Jesus in den Willen Gottes hineinversetzen und mit Gott eins werden. Lukas 6,36 schreibt im selben Zusammenhang: "Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." Da geht's also gar nicht um ein Vollkommenheitsideal, sondern um die Grundhaltung Gottes, die Barmherzigkeit. "Vollkommenheit" war ein Ziel, das viele Fromme damals anstrebten. Jesus und Matthäus knüpfen daran an und verwenden daher das Stichwort.

Herr Jesus, komm vom Himmel auf die Erde zurück, in unser Leben, in unsre Welt, und fang mit uns neu an das Reich Gottes Wirklichkeit werden zu lassen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner