Monatsspruch Juni 2018

Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt. (Hebräer 13,2)

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir waren vor fast genau 40 Jahren zu Gast im größten Bauernhaus eines kleinen Dorfes, Matratzenlager im Wohnzimmer. Die Gastgeberin erzählte, der Hof hätte verkauft werden müssen, weil der Vorbesitzer als reichster Mann im Ort viele gesellschaftliche Pflichten hatte und durch das ständige Bewirten von Gästen zahlungsunfähig geworden war. Einerseits genossen wir also das Gastrecht, andrerseits erfuhren wir, dass man sich als Gastgeber übernehmen kann.

Unser Nachtquartier war eine Gefälligkeit aus Anlass einer Familienfeier. Genauso haben auch Bekannte unsre Gäste bei Familienfeiern beherbergt und wir Freunde und Verwandte von weit her. Wenn wir verreisen, buchen wir aber meistens Unterkünfte gegen Geld.

Professionelle "Herbergen" gab's auch schon zur Zeit der Bibel. Maria und Josef fanden keinen Platz für ihr Baby in der Unterkunft und legten es in einen Futtertrog (Lukas 2,7). Der Barmherzige Samariter brachte den Überfallenen in ein Gasthaus und zahlte den "Klinikaufenthalt" (Lukas 10,34).

Aber in der Regel galt das gute alte Gastrecht: Es gehörte sich, Reisende als Gast aufzunehmen und zu beschützen. In den Erzvätergeschichten wird erzählt, wie Abraham drei Fremde einlud und bewirtete, die dann anschließend in das sündige Sodom gingen. Abrahams Neffe Lot, selbst ein Fremder, nahm sie auf und beschützte sie vor dem Mob der Stadt. (Genesis 19,1-11) Das waren die Engel, auf die der Hebräerbrief anspielt. Auch Jesus ließ sich bei seinen Wanderungen einladen.

Der Gast entschädigte den Gastgeber durch ein Gastgeschenk, eine Sitte, die heute noch gilt. Aus Fremden wurden Freunde und wenn der Wirt mal in die Heimat des Gastfreunds kam, brauchte er sich um ein Quartier keine Gedanken zu machen. Im Winter 1882/83 stand die ganze Mainspitze bis nach Groß-Gerau unter Wasser. Die betroffenen Dörfer wurden evakuiert und auf diese Weise entstanden Wasserfreundschaften, die generationenlang gepflegt wurden.

Und gegen Ende des 2. Weltkriegs und danach wurden Ausgebombte, Vertriebene, Flüchtlinge zwangsweise in unsern Wohnungen einquartiert, nicht immer mit Freuden. Da hat zwar keiner gesagt: "Wir schaffen das", aber wir haben's tatsächlich geschafft, obwohl wir selbst nichts hatten und trotz Wohnungsnot. Dazu kamen die Besatzungstruppen mit ihren Angehörigen, später DDR-Flüchtlinge, Flüchtlinge infolge von Krisen z.B. aus Ungarn, aus dem Iran, aus dem früheren Jugoslawien, Spätaussiedler, ferner ausländische Arbeitskräfte. Wir waren 1945 ein armes Land und haben's geschafft. Jetzt sind wir eins der reichsten, mit Hilfe von Menschen aus fremden Ländern. Wieso sollten wir es nicht mehr schaffen?

1987 sang Peter Alexander: "Hier ist ein Mensch, der will zu dir. Du hast ein Haus - öffne die Tür." (Text) Das schien mir ein bisschen blauäugig. Ich habe schließlich Erfahrungen mit Fremden, die an unsrer Pfarrhaustür klingelten: Geschäftemacher, Faulenzer ("Ich mache jede Arbeit", aber als ich ihm Arbeit anbot, ergriff er die Flucht), Zeiträuber, Märchenerzähler - aber doch auch Menschen, die niemand hatten und sich über ein Gespräch, einen Kaffee, ein Bad, ein Nachlager freuten. Engel waren das nicht. Und wirklich helfen konnte ich keinem und die "Ursachen beseitigen" auch nicht. "Ich kann nicht allen helfen, sagte der Geizige, und half keinem." Und ein Rezept, wie man einen Krieg beendet, der Menschen in die Flucht treibt, habe ich auch nicht. Außer noch mehr Bomben schmeißen ist noch keinem was eingefallen.

Das waren damals nur Einzelne. Was aber, wenn wie vor zwei Jahren Hunderte in einen Ort kommen? Die Stadt Bensheim hat sie aufgenommen, in Zelten, dann Häuser gebaut. Freiwillige geben Sprachkurse, betreuen Kinder, helfen ihnen in einer fremden Welt zurechtzukommen. Das ist die heutige Art von Gastfreundschaft.

Und was würde Jesus dazu sagen? "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Matthäus 25,40)

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner