Monatsspruch September 2020

Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat. (2. Korinther 5,19)

Liebe Leserin, lieber Leser,

mir geht immer noch ein Film durch den Kopf, den ich neulich sah: Ein Mädchen wird brutal misshandelt, im Sterben vergewaltigt und die Leiche verbrannt. Die Polizei kommt bei den Ermittlungen nicht vorwärts und die Mutter ist voller Wut. Sie beschuldigt den Polizeichef, die Vermittlungen zu verzögern. Ihre ungezügelte Wut richtet eine Menge Schaden an, seelisch, körperlich und materiell, und erfasst auch andere. Und alles nur, weil die Mutter nicht akzeptieren kann, dass der Täter nicht zu fassen ist. Vielleicht auch, weil sie sich selber schuldig fühlt.

Wut ist Energie, die der Köper bereitstellt, um einen Angriff abwehren oder ein Hindernis aus dem Weg räumen. Um eine Lösung zu finden, brauchen wir aber Köpfchen, nicht Kraft. Es ist besser sich zu beherrschen und nachzudenken statt seiner Wut freien Lauf zu lassen. Der verzweifelten Mutter im Film hat ihre Wut nicht geholfen. Sie konnte ihre Tochter nicht wieder lebendig machen und auch den Täter nicht fassen. Nicht ganz so schlimm, aber ähnlich geht es doch oft in unserm Leben zu. Es ist besser sich in das Unvermeidliche zu fügen, statt dagegen anzukämpfen.

Erst am Schluss wird angedeutet, dass die Mutter sich dazu durchgerungen hat loszulassen und damit ihren inneren Frieden zu finden. "Loslassen" heißt nicht länger festhalten, den Täter laufenlassen, Schulden, Strafe erlassen. Das ist im modernen Sprachgebrauch das, wozu man früher "vergeben" sagte: eine Forderung aufgeben, darauf verzichten (verwandt mit verzeihen), einem zum Tod verurteilten das Leben schenken.

Loslassen, vergeben ist der erste Schritt zum inneren Frieden. Der zweite ist die Versöhnung. Versöhnen ist das Gegenteil von sühnen 'Genugtuung leisten, büßen', wie verzeihen das Gegenteil von zeihen 'beschuldigen'. Die Mutter hatte nicht nur ihre Tochter verloren, sondern war selbst tief verletzt. Wäre der Mutter geholfen gewesen, wenn man den Täter gefunden und genauso bestialisch getötet hätte? Sie hätte diese Strafe vielleicht als angemessen gefunden und wäre für eine Weile damit zufrieden gewesen. Aber die Todesstrafe hätte ihr die Tochter nicht zurückgebracht und die innere Wunde wäre dadurch nicht geheilt worden. Wunden heilen von selbst - wenn man nicht ständig dran herumkratzt und sie künstlich offen hält.

Sühnen, versöhnen ist verwandt mit lateinisch sanus 'heil, gesund'. Jesus ermahnt uns immer wieder zu vergeben (Matthäus 18,21-35) und zu versöhnen (Matthäus 5,23.24). Wenn Gott uns vergeben soll, müssen aber auch wir vergeben (Matthäus 6,12 und 14.15). Aber wie war das? "Vergeben, ja, vergessen nie!" Und "wenn endlich über eine Sache Gras gewachsen ist, kommt so eine dumme Kuh und frisst es ab."

Nicht nur mit Menschen können wir uns versöhnen, sondern auch mit Gott. Viele "hadern mit Gott" oder ihrem Schicksal, das uns ja oft ganz übel mitspielt. Die Mutter im Film ist nicht die einzige, die ihre Tochter verloren hat. Meinen Eltern und uns ging's genauso. Meine Mutter wurde mit 35 krank und starb mit 67. Ich hatte dadurch keine unbeschwerte Jugend. Ich bin seit 30 Jahren schwerhörig, am Ende fast taub. Ein Kollege sagte neulich zu mir: "Wir dürfen auch klagen." Aber was bringt's? "Wir machen unser Kreuz und Leid nur schwerer durch die Traurigkeit".

Da ist es ganz hilfreich, uns von dem Bösen und Schlimmen, das uns widerfährt, nicht gefangen nehmen zu lassen und unsern Blick zu richten auf das Gute, das uns geblieben ist und immer neu geschenkt wird. Psalm 103 war mir immer eine große Hilfe: "Lobe den Herrn, meine Seele… und vergiss nicht, was er dir Gute getan hat."

Ein Pfarrer schrieb in der Gemeindechronik: "Es gab dieses Jahr schwere Unwetter. Aber am Schluss konnten wir genug ernten. Pocken und Cholera gingen um. Aber bei uns haben sich nur zwei infiziert und wurden wieder gesund." Er hatte einen Blick dafür, vor wie viel Unheil seine Gemeinde bewahrt blieb.

Ich muss ehrlich sagen, dass ich den Monatsspruch erst nicht verstanden hatte: "Gott versöhnte die Welt mit ich selbst." Normalerweise hieß es immer, Gott sei sauer auf uns wegen unsrer Sünden und wir müssten ihn um Vergebung bitten. Aber wir sind doch auch sauer auf ihn, weil wir uns ungerecht behandelt fühlen. Da helfen Klagen und Vorwürfe nicht weiter. Darum ist es so wichtig, dass wir lernen das Gute zu sehen und auch mit Gott Frieden zu schließen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner