"Advent" - Wann kommt Jesus wieder?

Der alte Lehrer Philipp haderte mit Jesus. In einer schlaflosen Nacht brach es aus ihm heraus: "Herr, ich habe dir mein ganzes Leben lang gedient, habe jahrzehntelang jungen Menschen von dir erzählt und für dich geworben, habe in Vertretung des Pfarrers unzählige Gottesdienste gehalten, habe den Kirchenchor dirigiert und Orgel gespielt und dabei die Gemeinde angeleitet, dein Lob zu singen, war im Vorstand des Roten Kreuzes und habe dir in Gestalt deiner geringsten Brüder gedient. Vor allem habe ich mein Leben lang geglaubt, gehofft, mit Spannung erwartet, gepredigt, dass du wiederkommst. Aber du bist nicht gekommen. Du hast mich enttäuscht. Ich kann nicht mehr glauben."

Die Worte versiegten. Philipp fühlte sich leer. Kein Funke von Glauben und Hoffnung mehr in ihm. Ausgebrannt. Was kann jetzt noch kommen? Eisiges Schweigen und das Dunkel der Nacht!

"Philipp, hast du wirklich nicht gemerkt, wie ich zu dir gekommen bin? Damals, als der Referendar meinte, die Weisheit der Bibel sei durch die moderne Wissenschaft schon lange überholt? Du konntest ihn mit ein paar Worten zum Nachdenken bringen. Woher kamen dir diese Gedanken? Du wärest von selbst nicht drauf gekommen. Ich habe sie dir eingegeben. Hast du nicht gemerkt, wie ich zu dir kam in Gestalt des Einfalls und deine Gedanken lenkte?

Weiter Philipp: Wie war das, als du damals den schweren Unfall hattest und ein halbes Jahr im Krankenhaus lagst? Was hast du damals mit mir gehadert und mir vorgeworfen, ich hätte dich nicht beschützt, und das hättest du nicht verdient! Aber schließlich hast du doch eingesehen, dass ich zu dir kommen musste in Gestalt des Unfalls, weil du nicht anders zur Besinnung gekommen wärst. Du warst in so vielen Aktivitäten aufgegangen, dass du keine Zeit mehr für mich hattest.

Und wie war das, als du deine Helga kennen lerntest? Sie war nicht aus dem Dorf, wo du deine ersten Unterrichtsversuche machtest, sondern sie machte dort gerade ein hauswirtschaftliches Praktikum. Es war Liebe auf den ersten Blick, und ihr habt es nicht bereut. Meinst du, das sei Zufall gewesen, dass ihr zur gleichen Zeit in diesem Dorf wart? Ich war es, der euch dorthin geschickt und zusammengeführt hat. Ich kam zu euch in Gestalt des Zufalls. Hast du das nicht gemerkt?

Und wie war das, als eure Irene so schwer krank wurde und schließlich starb? Woher habt ihr damals die Kraft genommen, damit fertig zu werden und nicht zu verzweifeln? Hast du nicht gemerkt, wie ich zu euch gekommen bin, wie ich Tag und Nacht in dieser kritischen Zeit bei euch war und euch mit einer wunderbaren Kraft und Zuversicht erfüllt habe?"

"Ja, Herr, du hast Recht! Du bist noch viel öfter zu mir gekommen; ich hab's gemerkt und sag auch nichts dagegen. Aber du hast doch versprochen, nicht nur unsichtbar ins Leben einzelner Menschen zu kommen, sondern sichtbar in unsere Welt, und unsere Welt zu vollenden?"

"Philipp, weißt du nicht, dass ich die Welt vollende in kleinen Schritten? So wie Rom nicht in einem Tag erbaut wurde, so wird auch die Welt nicht in einem Tag vollendet. Dazu braucht sogar Gott Jahrmillionen. Als ich dich endlich soweit hatte, dass du ein bisschen vollkommener warst, hast du um dich herum ein Stückchen heile Welt geschaffen, von der auch andere was spüren. Hast du gehört, was sie von dir sagen? Dass du soviel Liebe und Gelassenheit ausstrahlst, dass du um dich herum eine freundliche Atmosphäre verbreitest, ohne viel zu tun und zu sagen! Was erwartest du denn noch? Sei doch nicht so ungeduldig!"

"Herr, lobe mich nicht; ich werde sonst noch ganz eingebildet. Aber ich gebe mich auch damit nicht zufrieden. Ich möchte, dass du sichtbar kommst, und sei es nur zu mir."

"Philipp, du stellst vielleicht Ansprüche. Aber weil du's bist: Ich komme sichtbar zu dir. Nicht irgendein himmlischer Laufbursche soll es tun, sondern ich selbst will dich abholen, wenn dein Leben zu Ende geht. Dann wird es für dich keine Zeit mehr geben. Du wirst die Augen zumachen und das Bewusstsein verlieren. Ob du dann nur einen Augenblick oder tausend Jahre später die Augen wieder aufmachst, kann dir gleich sein. Du hast mich in der Zeit kommen sehen. Wenn du wieder aufwachst, bist du in der Ewigkeit. Und ich bin immer noch da. Ich bleibe bei dir und du bleibst bei mir. Was willst du mehr?"

Heinrich Tischner