Wort für den Monat Juli 2004

Jesus Christus spricht: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. (Markus 3,35)

Liebe Leserin, lieber Leser,

was ist mit der "Jugend von heute" los? Ich meine jetzt nicht die Fixer und Frühalkoholiker und Kriminellen, sondern die ganz Braven, zu denen du ja wohl auch gehörst oder gehört hast. Seit über 20 Jahren beobachte ich, dass die Leute, aus denen später etwas wird, in ihrer Jugend ganz unauffällig sind und sich höchstens durch besonders gute Leistungen auszeichnen. Wer bei den geringen Zukunftschancen heute etwas werden will, muss sich anpassen.

Vor 40 Jahren, in meiner Jugend, war das anders. Wir waren eine aufmüpfige Generation. Meine letzten beiden Studiensemester gingen unter in der beginnenden Studentenrevolte. Vor lauter Demos, Sit-ins und nicht enden wollenden Diskussionen war ein geregelter Unterrichtsbetrieb nicht mehr möglich. Und alles endete in den Siebzigerjahren im Terrorismus: Junge Menschen aus den besten Familien legten Bomben, entführten und töteten Prominente und taten all das, was wir heute islamischen Fundamentalisten zuschreiben: Im verzweifelten Kampf gegen das offensichtliche Unrecht der Mächtigen schienen alle Mittel erlaubt.

Eigentlich war das kein Kampf der Benachteiligten gegen die Mächtigen, sondern ein Generationenkonflikt: 20 Jahre lang hatten unsere Eltern wiederaufgebaut und materielle Werte geschaffen und wir profitierten von dem beginnenden Wohlstand. Die inneren Werte waren für viele mit dem Zusammenbruch des Naziregimes kaputtgegangen. Für die Suche nach neuen Werten hatte man keine Zeit. Wir Jungen protestierten gegen die einseitige materielle Orientierung der Erwachsenen.

Auch Jesus hat diesen Generationenkonflikt durchgemacht: Er sagte sich in einer dramatischen Szene von seiner Mutter und seinen Geschwistern los, die den durchgeknallten Aussteiger wieder zur Vernunft bringen und in die heimische Schreinerwerkstatt zurückführen wollten. Er hatte ja schließlich für seine verwitwete Mutter zu sorgen. Aber Jesus wollte nichts mehr mit den Angehörigen zu tun haben und erklärte seine Jünger zu seiner neuen Familie.

Das kann gefährlich werden und junge Menschen bestärken, ihren Kopf durchzusetzen unter dem Vorwand Gottes Willen zu tun. Das kann dazu führen, dass Familienbande zerbrechen, dass Kinder sich von ihren Eltern lossagen und Ehepartner voneinander. Das kann dazu führen, dass ungefestigte junge Menschen in den Klauen einer Sekte landen. Das kann dazu führen, dass sich Jugendliche und Erwachsene zu den schrecklichsten Verbrechen "im Namen Gottes" hinreißen lassen. Ist Jesus in dieser Hinsicht ein schlechtes Vorbild?

Wir müssen da die Bibel im Zusammenhang lesen: Jesus hat die Gefahren des religiösen Fanatismus sehr klar erkannt und darum als gleichwertig und ergänzend neben die Gottesliebe die unbedingte Menschenliebe gestellt. Fanatismus ist menschenverachtender "Eifer für Gott", fehlgeleitete einseitige Liebe zu Gott oder einem Ideal. Darum legen fast alle Apostel übereinstimmend mit Jesus immer wieder dar: "Wer Gott liebt, der muss auch seinen Bruder lieben."

Umgekehrt kann einseitige Liebe zu den Menschen zu falschem Verhalten führen. Wir erwarten von unserem Partner die Erfüllung unseres Lebens und überfordern ihn damit. Zwei Haltlose können einander nicht stützen. Ich kann dem anderen nur was geben, wenn ich selbst was bin und was zu geben habe. - Auch Eltern erwarten von ihren Kindern oft die Erfüllung ihres Lebens: das Ziel erreichen, das sie nicht erreichen konnten – die zerbrechende Ehe kitten: Besitz ergreifende Liebe, die keine Freiheit lassen kann. Um wirklich lieben zu können, brauchen wir Gott. Ich kann stark sein und Halt geben, weil ich selbst einen Halt gefunden habe. Ich kann Liebe schenken, weil Gottes Liebe mein Herz erfüllt. Ich muss niemand an mich ketten, weil Gott mich selbst freigemacht hat.

"Jesus Christus spricht: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter." Gottes Willen tun wir, indem wir Gott und die Menschen lieben.

Herzliche Grüße

Heinrich Tischner