Liebe Leserin, lieber Leser,
dieses Mal kann ich meine Andacht nicht über einen Bibelspruch machen, den irgendwelche Leute für dieses Jahr, diesen Monat, diese Woche oder diesen Tag ausgesucht haben. Dieses Mal muss ich mich mit einer "Losung" beschäftigen, die das Leben schreibt. Zu viel habe ich in den letzten Wochen Schreckliches gehört. Heute Morgen in der Zeitung: "203 Chinesen sterben in der Grube". An Weihnachten: der Tsunami. Dazwischen: persönliche Schicksalsschläge von Menschen die ich kenne. Da kommt einem als gläubiger Mensch doch die Frage: "Wo ist denn nun Gott? Warum hat er das nicht verhindert? Warum musste das geschehen?" Oder, wie eine Bekannte fragte: "Für welche Sünden wurden die Betroffenen bestraft?"
Klar: es gibt "Sünden" (oder sagen wir besser "Fehler"), für die wir oder andere büßen müssen. Zum Beispiel Fehlverhalten im Verkehr, ungesundes Leben (ich hab zu viel Kaffee getrunken und bekam wieder die Gicht), Nachlässigkeit (keine Schutzbrille getragen und am Auge verletzt)… Manchmal liegt der Zusammenhang ja offen auf der Hand. Aber oft ist das eben nicht so. Da stirbt ein 48jähriger an Herzinfarkt und hat doch so gesund gelebt und viel Sport getrieben. Da ist eine gute und fromme Frau ihr Leben lang krank. Oder da wird Jesus als angeblicher Terrorist gekreuzigt. Spätestens seit Jesus können wir nicht mehr behaupten, dass alles Unheil eine Strafe Gottes sei.
"Wie kann ein liebender Gott das alles zulassen oder sogar veranlassen?" Alle unsere Weisheiten werden fragwürdig, wenn es um das Schicksal konkreter Menschen geht. Es ist lieblos, einem auf den Kopf zuzusagen: "Du bis an deinem Leiden selber schuld. Gott bestraft dich oder will dich prüfen." Die Antwort kann jeder nur selbst finden. Manches Mal musste ich mir ja wirklich eingestehen: "Ich bin selbst dran schuld." Hinterher hab ich auch erkannt, dass sich mein Glaube unter Belastungen bewährt hat. Oder ich habe mich auch schon damit getröstet, dass ich mir klar machte: "Warum soll es mir besser gehen als anderen?"
Die Antwort, wenn es so weit ist, muss jeder selber finden. Aber es kann hilfreich sein, wenn wir uns mit möglichen Antworten und Theorien schon vorher beschäftigen.
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner