Eine Auslegung des 23. Psalms

"Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln; Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser; Er erquicket meine Seele."

Der Beter verspürt in seinem Leben die helfende Hand Gottes: Gott sorgt für ihn; ihm fehlt nichts; es geht ihm gut; er hat alles, was er zum Leben braucht. Er erkennt das dankbar und fasst diese Erkenntnis in Worte: Ich erlebe Gott wie ein Schaf seinen Schäfer.

…wie ein Schaf seinen Schäfer? Das Schaf wird wohl nie begreifen, wer der Schäfer wirklich ist. Es kennt ihn, sieht ihn, hört seine Stimme - und kann ihn doch nicht begreifen. Unvorstellbar anders, überlegen, ist der menschliche Schäfer gegenüber dem Schaf.

So muss auch der Beter Gott erleben: als den Nahen, Vertrauten, und doch Fremden, ganz Anderen, Unbegreiflichen. Was er begreifen kann mindestens eine Zeitlang: Gott sorgt für mich, ich hab's gut.

"Er führet mich auf rechter Straße um Seines Namens willen."

Der Beter begreift auch: Eines Tages muss ich runter von der grünen Aue, da muss ich mich auf den Weg machen. Leben ist nicht Stillstand, sondern Entwicklung, Fortkommen. Wenn ich weiterkommen will, auch in geistlicher Hinsicht, muss ich Abschied nehmen vom sicheren bequemen Leben und mich auf den Weg machen. Weg bedeutet nicht nur Bewegung, sondern auch Strapazen, Mühsal, Schwierigkeiten. Die muss ich auf mich nehmen, wenn ich weiterkommen will.

Der Beter begreift weiter: Dass er sich tatsächlich auf den Weg macht, ist nicht sein eigener Wille. Er wird auf den Weg geführt und den Weg entlang geführt. Also muss der Weg einen Sinn und ein Ziel haben. Auch wenn ich den Weg nicht kenne - der mich draufgeführt hat, kennt ihn und wird mich weiterführen. Ich darf mich auf Ihn verlassen.

Mein Lebensweg ist vorgezeichnet und mir "einprogrammiert", ohne dass mir das bewusst ist. Ich weiß in der entscheidenden Situation genau, was ich tun muss. Ich kann mich aber auch irren, kann das unbewusste Wissen in den Wind schlagen und versuchen, einen anderen Weg zu gehen. Ich bin daher drauf angewiesen, mich führen zu lassen, damit ich den richtigen Weg finde.

"Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich."

Ich mache mich also auf den Weg, in der Überzeugung, dass das der richtige Weg ist. Dass er mühsam und beschwerlich ist, kann ich mir denken. Aber wo führt er hin? Zu neuen Weidegründen? Um mich herum nur Wüste, kahle Felsen, die immer näher an den Weg herankommen. Keine Aussicht auf neue Weide! Ich muss von der Substanz leben. Ich muss von dem leben, was mich der gute Hirte auf der grünen Aue hat finden lassen.

Mir kommen Zweifel, ob das der richtige Weg ist. Er führt hinein ins Gebirge, das Tal wird immer enger, eine richtige Schlucht, in der kein Sonnenstrahl mehr den Boden erreicht. Ewiger Schatten. Todesschatten. Ist das das Ende? Bin ich in eine Sackgasse geraten, aus der ich nicht mehr heraus kann? Ich stecke in der engen, dunklen Schlucht fest. Wer hilft mir?

Auf der grünen Aue war ich in guter Gesellschaft. Das Schaf weidet in der Herde, ist aufgehoben in der Herde, beschützt und gehütet vom guten Hirten. Doch jetzt? Wenn ich mich richtig besinne, bin ich schon lange allein. Die anderen sind nicht mit mir gegangen. Ich bin allein aufgebrochen in das Tal der Todesschatten. Sie konnten mich nicht begleiten.

Und doch bin ich nicht allein. Der mich hierher geführt hat, ist bei mir. Ich spüre Seine Nähe, auch wenn ich nichts sehe. Ich empfinde keine Angst. Der andere ist bei mir. Sein Hirtenstock und sein Stützstab waren mir schon immer eine Garantie dafür, dass Er mich schützt, mit dem Stock verteidigt, und dass Er nicht müde dabei wird, weil Ihm der Stab Halt gibt. Der Stecken und der Stab - sind das nicht die beiden Balken des Kreuzes, das Zeichen dessen, der mir auf dem Weg ins Tal des Todes vorangegangen ist?

Jetzt weiß ich's, obwohl ich immer noch nichts sehe: Der bei mir ist, ist Christus - kein namenloses Schicksal, sondern ein Mensch wie ich. Nicht mehr Schaf und Mensch, zwei völlig verschiedene Wesen, sondern Mensch und Mensch, mein Freund und ich, gehen durchs finstere Tal.

Zu Freunden, Seinesgleichen sagt man nicht 'Sie', auch nicht das altertümliche 'Er', sondern 'du'. Darf ich's wagen, zu meinem Führer 'du' zu sagen? "Du bist bei mir."

"Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar."

Auf einmal - ich weiß auch nicht wie - sind wir hindurch. Alles ist anders: Luft, Licht, viel Platz, kein enges Tal mehr. Aber auch kein Weg und keine grüne Weide und frisches Wasser mehr, sondern ein gedeckter Tisch im Haus des HERRN. Was mir der gute Hirte geboten hat: Gras und Wasser, ist mager und dürftig im Vergleich zu dem, was Er mir auf dem gedeckten Tisch serviert!

Ich bin hindurch, drüben, auf der anderen Seite. Hier Schaf und Schäfer, vertraut und zugleich unbegreiflich, drüben Gast und Gastgeber, wie Mensch und Mensch, von Angesicht zu Angesicht. Nichts Unbegreifliches mehr.

Was war die saftige Weide und das klare Wasser im Vergleich zu dem, was ich jetzt habe? Noch nicht mal ein Vorgeschmack, nur eine Vorstufe, eine Durchgangsstufe zum Eigentlichen. Hier gibt's keinen Aufbruch mehr, denn ich darf bleiben.

Meine Gedanken schweifen zurück auf das Land, aus dem ich komme. So ganz neu ist die Situation hier ja nicht. Der mich jetzt bewirtet, war schon drüben bei mir, als guter Hirte. Er war derselbe, auch wenn ich Ihn jetzt anders erlebe. Ich war schon damals Sein Gast; das alte Vertrauensverhältnis besteht weiter. Da hat sich auch im finsteren Tal nichts geändert.

Am Tisch, an dem ich sitze, ist viel Platz. Was ist mit den Menschen, die ich drüben gekannt habe? Mit meinen Freunden und meinen Feinden? Auch für sie ist der Tisch gedeckt, auch für sie steht ein Stuhl da. Wir essen gemeinsam, die schon vorher da waren, ich, und die nach mir kommen. Meine früheren Feinde sitzen mir gegenüber. Was heißt hier Feinde? Wir hatten verschiedene Ziele, gingen verschiedene Wege, verstanden einander nicht. Jetzt sitzen wir an einem Tisch - auf verschiedenen Wegen ans gleiche Ziel gekommen. Was soll die alte Feindschaft? Der gemeinsame Tisch eint uns.

Haben alle den Weg hierher gefunden? Oder haben sich ein paar meiner früheren Freunde und Feinde verirrt, sind stecken geblieben, jämmerlich umgekommen, weil sie sich nicht führen ließen? Der Gedanke macht mir Angst, mitten in der Geborgenheit, mitten in der himmlischen Seligkeit. Was ist mit ihnen? Wer hilft ihnen hierher? Ich kann das eigentlich nur dem guten Hirten überlassen, der mich auch hergebracht hat - trotz meiner Angst, trotz meiner Zweifel, ob das der richtige Weg ist, trotz meines Eigensinns, der lieber einen anderen Weg gegangen wäre.

Heinrich A. Tischner