Armenien heute

Heinrich Tischner, unser langjähriger Vorsitzender und jetziger Pfarrer i. R., und seine Frau Ingrid haben in diesem Sommer Armenien besucht, ein Land, von dem man selten etwas hört. Für das Glühwürmchen haben wir ihm einige Fragen gestellt, die er hier beantwortet:

  1. Über Armenien erfahren wir nur selten etwas in Fernsehen, Rundfunk oder Zeitung. Wo liegt es eigentlich? Wie groß ist es? Wie ist die aktuelle wirtschaftliche Situation dort?
    Armenien liegt zwischen der Türkei im Westen, Aserbaidschan im Osten, dem Iran im Südosten, dem zu Aserbaidschan gehörigen Nachitschewan im Südwesten und Georgien im Norden. Es war Teil der Sowjetunion und ist seit 1991 selbständig. Es hat eine Fläche von 29.800 qkm, 3 Millionen Einwohner, davon über 1 Million in der Hauptstadt Jerewan (Eriwan). Zum Vergleich: Hessen hat 21.115 qkm und 6 Millionen Einwohner.
    Seit dem "Zusammenbruch" hat die Wirtschaft schwer gelitten. Das Land hatte von der wirtschaftlichen Verbindung mit der Union profitiert. Die Sowjets waren gerade dabei, eine Menge kostengünstige Wohnungen zu bauen, da war auf einmal kein Geld mehr da. Überall stehen Neubauruinen herum. Aserbaidschan hat dem feindlichen Nachbarn Anfang der 90er-Jahre drei Monate lang den Strom abgestellt. Wo etwas investiert wird, geschieht es mit ausländischem Geld (die Mehrheit aller Armenier ist reich, lebt im Ausland und pumpt Geld in das Land).
    Das Lebensnotwendige ist aber vorhanden: Trotz Hochgebirge an geeigneten Stellen Landwirtschaft: riesige Weizenfelder, Unmassen von Melonen, die an den Straßen angeboten werden (Hochsaison), in den höheren Lagen Weidewirtschaft. Da die Sommer sehr trocken sind, hatten wir zwei, drei Mal kein Wasser und einige hoch gelegene Trinkbrunnen waren versiegt. Angeblich ist Wasser genug da, bloß mit der Verteilung hapert es, zum Teil viel Verlust durch marode Leitungen.
    Jerewan ist eine normale, moderne Großstadt, in der es alles gibt. Auf dem Land geht’s dagegen sehr ärmlich zu. Viele Straßen sind in schlechtem Zustand, was aber auch durch die extremen Witterungsverhältnisse bedingt ist. Die Straßenbeläge können nicht so schnell erneuert werden, wie sie kaputt gehen.
  2. Ist Armenien politisch völlig isoliert oder gehört es zu irgendeinem Bündnissystem?
    Armenien gehört zum lockeren Bündnis der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS).
  3. Welche politischen und wirtschaftlichen Verbindungen gibt es zwischen Armenien und Deutschland?
    Keine Ahnung. Unsere Reise war vorbereitet worden von einer Armenisch-Deutschen Gesellschaft mit Sitz in Jerewan.
  4. Im "Glühwürmchen" wurde vor einigen Monaten geschrieben, Armenien sei der älteste christliche Staat der Welt. Wird man im alltäglichen öffentlichen Leben in Armenien daran erinnert?
    Ja. Das Land ist seit 301 von Staatswegen christlich und daran hat sich auch in sowjetischer Zeit nichts geändert. Obwohl die meisten Armenier atheistisch erzogen sind, spielt die Kirche auch heute noch eine herausragende Rolle. Sie war nämlich während der vielen Fremdherrschaften und bei aller politischen Zersplitterung die einzige funktionierende Institution, die die armenische Identität aufrechterhielt. (Westarmenien lag in der Türkei, das heutige Armenien war lange persisch, dann russisch bzw. sowjetisch).
    Trotz atheistischer Erziehung ist der Kirchenbesuch mit 3% etwa wie bei uns. Die Pfarrer werden von den einzelnen Gemeinden besoldet, daher gibt’s attraktive und weniger attraktive Gemeinden. Die kirchliche Versorgung liegt arg danieder, weil es bis vor kurzem kaum noch Möglichkeiten zur theologischen Ausbildung gab. Man ist aber dabei, das zu ändern.
    Die Gemeindepfarrer müssen verheiratet sein, die oberen Ränge der Geistlichkeit dürfen nicht heiraten, das führt schon im Priesterseminar zu einer Trennung. Ein Gemeindepfarrer hat keine Chance, Bischof oder Katholikos (= Kirchenoberhaupt) zu werden. Das ist was für ehrgeizige junge Leute, die sich gleich bei der Kirchenleitung anstellen lassen.
    Klöster gibt es seit dem Mittelalter nur noch ganz wenige. Die Fürsten brauchten Soldaten, keine Mönche.
    Inwieweit das alltägliche Leben christlich geprägt ist, kann ich nicht sagen. Ich habe in ganz Jerevan nur eine Kirche gesehen, eine ganz neue, die 2001 eingeweiht worden ist. Dort war auch werktags um 10 Uhr ziemlich Betrieb, Leute die dort privat beten wollten, die Frauen mit Spitzenschals auf dem Kopf (nur in der Kirche).
    Dagegen ist mir an etwas Anderem aufgefallen, dass die Armenier freie, christliche Menschen sind: Die Frauen laufen auf der Straße ohne Scheuklappenkopftücher und nicht verschüchtert herum wie in anderen orientalischen Ländern, sondern sehr selbstbewusst. Die meisten, Männlein wie Weiblein, gucken einem offen in die Augen. Die Kinder wirken nicht abgerichtet, sondern ebenso frei. Sie kamen zum Bus nicht zum Betteln, sondern aus Neugier. Einmal machten zwei Buben einen Schaukampf und ein paar Mädchen, zufällig mit Blumensträußen, tollten unbekümmert mit den Buben herum. Ein anderes Mal aber standen die Buben zusammen, während zwei Mädchen sich abseits hielten. Auch bei uns zu beobachten.
  5. Unterscheiden sich die christlichen Kirchen und Gottesdienste in Armenien von denen in Deutschland?
    Das armenische Christentum ist eine eigene Konfession, die sich 554 von der byzantinischen Kirche getrennt hat. Sie hat einige Entwicklungen der orthodoxen Kirche nicht mehr mitgemacht. Es fehlen zum Beispiel die Ikonen und die Ikonenverehrung. Die Heiligen sind keine Vermittler zu Gott, sondern jeder Armenier steht vor seinem Gott allein. Da Armenien auch eine eigene "Kirchensprache" hat, die sonst niemand versteht, hat sich der armenische Glaube eigenständig weiter entwickelt.
    Die Kirchen sind meist Rundkirchen mit einer Kuppel und einander so ähnlich, dass ich auf den Bildern kaum Unterschiede erkennen kann. Der Altarraum ist etwa 1 m höher und darf nicht mit Straßenschuhen betreten werden. Darauf steht ein kunstloser Altar, meist mit einem Madonnenbild. Während der "Wandlung" ist der Altar mit einem Vorhang verhüllt, den Priester dahinter sieht man nicht. Anders als bei den Orthodoxen gibt es keine Ikonen und wenig Bilder. Aber eine Menge Andachtskerzen wie bei den Orthodoxen und Katholiken.
    Ich habe vor Jahren in Jerusalem einen ganzen Gottesdienst miterlebt und in Armenien den Rest einer privaten Messe der Priester. Natürlich versteht man kein Wort. Die beiden Priester standen im Ornat vor dem Altar, ihr Archimandrit mit Kapuzenmantel saß auf einem Sessel, alle Gesichter zum Altar. Sie rezitierten ihre Texte in eintönigem Singsang; an einer Stelle half eine Frau beim Psalmodieren. Irgendwo hörte ich was von "Jesu". Und was der Segen sein sollte, konnte man auch erkennen. Die armenischen Christen bekreuzigen sich, haben aber kein Weihwasser.
    In Jerusalem war die Kirche voll (Gedenktag an die Bibelübersetzung). Alle standen. Da ich einen ungünstigen Platz hatte, habe ich kaum was gesehen. Gleich zu Anfang las einer was aus einer riesigen Bibel. Was ich dann sonst noch mitbekam, waren Lesungen, die mehrere Geistliche mitten unter den Gottesdienstteilnehmern an riesigen Lesepulten vortrugen. Ob auch gepredigt wurde, kann ich nicht sagen.
  6. Haben die armenischen Christen die gleiche Bibel wie wir, nur eben in ihrer Sprache?
    Ja, sogar eine sehr alte Übersetzung aus dem vierten Jahrhundert. Ich befürchte nur, dass die meisten sie nicht mehr verstehen. Die armenische Bibel gilt sogar als ein wichtiger Meilenstein in der Überlieferung des Bibeltextes und hat manche Lesarten bewahrt, die sich in den bekannten Handschriften nicht finden.
    In unserem Hotel in Jerewan lag in einer Schublade ein armenisches NT, vielleicht sogar in moderner Sprache.
    Ob diese Bibel dieselbe ist wie bei uns, weiß ich nicht. Wahrscheinlich geht sie von der griechischen Bibel aus und enthält daher im AT auch die Apokryphen. Ansonsten stimmt sie inhaltlich wohl weitgehend mit unserer Bibel überein, höchstens dass die Bücher in einer anderen Reihenfolge stehen und in einigen Büchern die einzelnen Abschnitte anders angeordnet sind. Das ist aber in alten Bibelausgaben oft der Fall.
  7. Gibt es dort auch christliche Jugendgruppen wie den CVJM?
    Selbstverständlich gibt es auch in diesem Land einen CVJM. Aber der ist westlicher Import, nicht im Land gewachsen.
    Gemeindegruppen, wie wir sie kennen, gibt es bei uns erst seit 120 Jahren. Kirchliche Jugendarbeit wurde nötig, weil in den Großstädten keine gewachsenen Strukturen mehr gab, in die die jungen Leute hätten hineinwachsen können. In Armenien dagegen ist die Familie wirklich noch das A und O und die Kirche die Stütze der Gesellschaft, wie es bei uns vielleicht vor 200 Jahren gewesen ist.
  8. Müssen besondere Vorschriften beachtet werden, wenn man als Tourist Armenien besuchen will? Wie kann man sich verständigen? Mit welchen Kosten ist zu rechnen?
    Man braucht ein Visum, das für 30 $ am Flughafen erteilt wird, und man muss bereit sein, Armenien und seine Bewohner so zu nehmen, wie sie sind. Zusätzliche Kosten hatten wir kaum. Da 1 Euro = 560 Dram in Landeswährung entsprechen, hat man’s gleich mit riesigen Zahlen zu tun. Ein Preisvergleich war nicht möglich.
    Da das Armenische auch eine eigene Schrift hat, kann man Inschriften und Ortsschilder nicht lesen. Man weiß also nicht, wo zum Beispiel die Post ist. Deshalb ist es gut, wenn man wenigstens die russische Schrift lesen kann, in der vieles zusätzlich geschrieben ist. Ein bisschen Russisch ist auch kein Fehler. Neuerdings steht auch vieles in unseren "lateinischen" Buchstaben.
    Verständigen kann man sich auf Englisch. Es gibt aber auch überraschend viele, die wenigstens ein paar Brocken Deutsch können. Viele haben in Deutschland gearbeitet. Deutsch gilt als eine wichtige Kultursprache. Wenn alle Stricke reißen, kommt man auch mit Zeichensprache gut zurecht. Die Armenier sind Meister in dieser Kunst.
  9. Könntest Du einmal ausführlicher im CVJM über Armenien berichten?
    Im Prinzip ja, aber nur vor einem ausreichend großen Publikum (mindestens 20 Personen).

Wir danken Heinrich Tischner für seine Antworten.