Oikocredit-Förderkreis Hessen-Pfalz e.V.: Mitgliederversammlung 2005

Oikocredit ist eine Genossenschaft mit Sitz in den Niederlanden, die ursprünglich auf eine Initiative des Ökumenischen Rats der Kirchen zurückgeht. Sie feiert in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag. Bei Oikocredit kann man Anteile kaufen. (Man erhält dafür eine geringe Dividende und kann bei Bedarf die Anteile wieder zum ursprünglichen Preis verkaufen.) Das eingezahlte Geld verleiht die Genossenschaft zu relativ günstigen Zinsen an Genossenschaften oder Kleinunternehmer in der Zweiten und Dritten Welt. Motto von Oikocredit ist "Investieren in Gerechtigkeit" und die Zielsetzung lautet zusammengefasst: "Entwicklungsförderung durch Kredit". Das für diesen Zweck zur Verfügung stehende Kapital liegt zur Zeit bei etwa 200 Millionen EURO. Daran sind weltweit 35 Förderkreise (davon 11 in Deutschland) mit mehr als 24 000 Einzelpersonen, Gemeinden, Kirchen und andere Institutionen beteiligt, u. a. auch der CVJM Reinheim.

Viele von uns können sich kaum vorstellen, wie schwer es für arme Menschen ist, sich Geld zu leihen. Aber wer in Deutschland arbeitslos wird, kann sehr schnell solche Erfahrungen machen. Noch viel schwieriger ist es oft in Entwicklungsländern. Man braucht aber manchmal dringend für eine bestimmte Zeit geliehenes Geld, um eine Notlage zu überwinden oder ein Ziel zu erreichen (z. B. ein Auto zu kaufen, das beruflich erforderlich ist).

Kürzlich las ich ein Beispiel von den Philippinen: Auf dem Markt gilt das 5/6-Prinzip. Eine Markthändlerin, die sich bei einem privaten Geldverleiher für ihren Betrieb 500 Pesos leiht, muss nach einem Monat 600 Pesos zurückbezahlen. Der Zins beträgt also 20 % im Monat, das bedeutet über 240% im Jahr. Wir bezahlen in Deutschland bei einer Bank etwa 15 % im Jahr. Aber welche "normale" Bank würde einer Markthändlerin auf den Philippinen ein Darlehen gewähren? Immer größere Abhängigkeit und wachsende Armut sind oft das Ergebnis.

Oikocredit vergibt über lokale Genossenschaften z.B. Mikrokredite von 50,- EURO aufwärts. 50,- EURO sind in Deutschland nicht viel. Sie reichen in manchen Gaststätten gerade für ein Mittagessen für zwei Personen. In Ländern der Dritten Welt ist es oft ein ganzer Monatslohn.

Unser CVJM gehört zum Förderkreis Hessen-Pfalz, der seinen Sitz in Kassel (Querallee 50) hat. Der Förderkreis hat über 850 Mitglieder, dazu zählen 4 katholische Bistümer, 2 evangelische Kirchen und über 250 Kirchenkreise und -gemeinden sowie 35 Gruppen und 570 Einzelpersonen. Zusammen haben sie über 4 Millionen EURO eingezahlt. Die diesjährige Mitgliederversammlung fand am23. April im Gemeindehaus der kath. St. Hedwigsgemeinde in Oberursel am Taunus statt. Es nahmen ca. 80 Personen teil.

Neben der eigentlichen Mitgliederversammlung standen zwei Vorträge im Mittelpunkt: Herr Erich Stather, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), sprach über "Finanzsektorförderung und allgemeine Leitlinien der deutschen Entwicklungspolitik" und Herr Karsten Löffler vom Vorstand des Förderkreises berichtete unter dem Thema "Mikrokredite vor Ort" über eine Informationsreise zu Projekten in Peru.

Der Vortrag von Herrn Stather setzte umfangreiches Wirtschaftswissen voraus. Deshalb davon nur einige Kernsätze, die ich glaube verstanden zu haben. Dagegen war die sich anschließende Diskussion für mich wesentlich informativer. Am Anfang stand ein guter Merksatz: Mit unserem Einsatz verändern wir nicht die Welt, aber die Welt unserer Partner. - Das Jahr 2005 soll laut UNO das internationale Jahr des Kleinkredits sein. Kleinkredite über verlässliche Nichtregierungsorganisationen (NGO) sind in manchen Entwicklungsländern besser zur Hilfe für Bedürftige geeignet als Regierungspartnerschaften, denn wer weiß, ob das Geld weitergeleitet wird. Die Erfahrung zeigt, dass es von manchen Regierungen auch in die Rüstung gesteckt wurde. - Hilfe ist nur möglich, wenn die Finanzsysteme verlässlich sind, und so ist es ein Ziel der Armutsbekämpfung unseres BMZ, verlässliche Finanzsysteme zu entwickeln. - Wir sind übrigens eines der wenigen Länder in der EU, die ein eigenes Entwicklungshilfeministerium (BMZ) haben (Hoffentlich bleibt das auch so, denn das BMZ denkt wesentlich langfristiger als andere!). Die Zielsetzung dieses Ministeriums kann sich durchaus von der anderer Ministerien (Außenpolitik, Finanzen, Wirtschaft) unterscheiden.

Ziel der UNO ist es, den Anteil der Armen in der Welt bis 2015 auf die Hälfte zu senken.

Ziel der EU ist es, die Entwicklungshilfe bis 2014 auf 0,7 % des Bruttosozialproduktes zu steigern. Zur Zeit liegen wir in Deutschland nur bei 0,28 %. Das sind 6 Milliarden EURO/Jahr, davon wird aber nur ein Teil vom BMZ vergeben, der Rest von anderen Ministerien (z.B. vom Verbraucherministerium). Unser Verteidigungshaushalt liegt dagegen bei 27 Milliarden EURO.

Ethische Aspekte gewinnen bei Kapitalanlagen an Bedeutung. 85 % aller Anleger möchten darüber informiert werden. Oikocredit hat in Deutschland 11 000 Mitglieder und ist einer der größten ethischen Fonds in Europa.

Auch die Weltbank unterstützt Mikrofinanzsysteme. Deutschland ist der viertgrößte Beitragszahler der Weltbank. Der oft beklagte Umfang der Privatisierung als Voraussetzung für die Förderung eines Staates durch die Weltbank ist vermindert worden, beim Internationalen Währungsfond (IWF) hat sich darin allerdings bisher weniger verändert.

Wir können – so der Staatssekretär - mit Fördermaßnahmen nicht warten, bis von uns gewünschte demokratische Regierungen eingesetzt sind. Meist handelt es sich um zentralistisch regierte Staaten, trotzdem braucht die Bevölkerung jetzt Hilfe, z.B. bei Wasserversorgung und Abwasserentsorgug in Albanien.

Stark kritisiert wurden die Agrarsubventionen der EU: Werden deutsche Produkte mit Hilfe von EU-Subventionen in Entwicklungsländer exportiert, so behindern sie die Entwicklung der dortigen Landwirtschaft enorm.

Die Besteuerung von Flugbenzin in der EU (in meinen Augen schon lange überfällig) wird kommen. Wann kommt eine Waffenexportsteuer?

Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass beim BMZ mit hohem Sachverstand und gutem Überblick eine vernünftige Politik gemacht wird zum Nutzen wirtschaftlich benachteiligter Menschen in Entwicklungsländern und damit langfristig auch zur Friedenssicherung und zu unserem Nutzen. Ich persönlich glaube allerdings, dass Entwicklungsgelder am besten angelegt sind, wenn sie durch christliche Gruppen und Organisationen an Christen gegeben werden, weil der christliche Glaube Verantwortungsbewusstsein und Mitmenschlichkeit wachsen lässt.

Herr Löffler berichtete über seine Reise zu Oikocredit-Projekten in Peru. In Peru leben etwa 30 Millionen Menschen. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt. 55 % der Einwohner haben weniger als 30 EURO/Monat (!) zum Leben. In Peru sind 75 % der Bevölkerung in 3,1 Millionen Kleinstunternehmen beschäftigt. Die (Groß-)Familie ist eine Einkommensgemeinschaft. Wenn ein Familienmitglied verdient, können alle davon profitieren. Die Mikrokredit-Verträge werden aber überwiegend von bzw. mit Frauen abgeschlossen. Herr Löffler erzählte von einer Genossenschaftsbank mit 20-30 Mitgliedern, von denen laut Satzung nur drei Männer sein dürfen. Frauen sind dort offenbar wesentlich zuverlässiger und verantwortungsbewusster als Männer. Die Bank vergibt Kredite zwischen 40 und 1000 US-$. Ein Teil der Kredite muss aber gespart werden. Es herrschen strenge Regeln: Wer nicht zahlt, dem werden Sparbuch und evtl. auch das Eigentum gepfändet. Er kann es evtl. später wieder einlösen. Wer zu den Sitzungen zu spät kommt oder gar fehlt, muss eine Geldstrafe zahlen. Das dadurch eingehende Geld wird den Zuverlässigen ausbezahlt. Die Fälle, in denen ein Kredit nicht zurückgezahlt wird, sind sehr selten. Sie betragen nur 2,5 – 3 %, das ist weniger als bei normalen Geschäftsbanken, obwohl die Genossenschaftsbanken oft auch noch Kredite an Personen vergeben, die für Geschäftsbanken nicht kreditwürdig (weil zu arm oder unzuverlässig) sind.

Die eigentliche Mitgliederversammlung des Fördervereins verlief im üblichen Rahmen mit Vorstandsbericht, Finanzbericht, Entlastung, Haushalt 2005, Vorstandswahlen usw. ab, wie wir es von unseren Jahreshauptversammlungen her kennen. Es gab keine Überraschungen. Der Finanzbericht kam zu dem erfreulichen Ergebnis, dass trotz höherer Rückkäufe der Anteilsbestand des Förderkreises im Jahre 2004 um fast 441 000 EURO gewachsen ist. Das ist das bisher beste Ergebnis in der Geschichte des Förderkreises. 47 neue Mitglieder wurden gewonnen, 15 schieden aus. Im Durchschnitt steigen heute neue Mitglieder mit höheren Summen ein als früher. Kirchengemeinden halten im Durchschnitt nur wenige Anteile.

Kirchen haben das Problem, dass sie auf höhere Zinsen bei Ihren Rücklagen angewiesen sind, da diese Zinsen im Haushalt fest eingeplant sind. Deshalb überlegt Oikocredit, ob nicht für hohe Einlagen Sonderbedingungen eingeräumt werden können. Überlegungen, die von einigen Mitgliedern scharf kritisiert wurden. Die gesamte Versammlung verlief aber in einem freundlich-verbindlichen Klima. Auch die Vorstandswahlen (der erste Vorsitzende trat aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig zurück) verliefen reibungslos. Alle kennen das Ziel, nur über den besten Weg gehen manchmal die Meinungen auseinander. Wer sein Geld ethisch vertretbar als Hilfe zur Armutsbekämpfung anlegen möchte, hat bei Oikocredit eine gute Möglichkeit. Ein kleines Restrisiko muss dabei freilich in Kauf genommen werden.

G.A. Langenbruch