Wort für den Monat August 2006

Jesus Christus spricht: Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen. (Johannes 10,10)

Liebe Leserin, lieber Leser,

in meiner Jugend kannte ich eine Frau, die beklagte sich immer wieder, sie habe nichts vom Leben. Dabei hatte sie's gut: eine Wohnung, ein gesichertes Einkommen, Angehörige, Freunde, Freiheit. Sie hatte alles, konnte tun, was sie wollte und war doch nicht zufrieden. Sie wusste auch warum: Sie hatte keinen Mann gefunden. Sie hatte niemand, für den sie da sein konnte. Sie wusste nicht, wozu sie auf der Welt war. Schon als Jugendlicher wurde mir an ihrem Beispiel klar: Leben braucht einen Inhalt, braucht Erfüllung durch eine Aufgabe, sonst empfinden wir es als leer und sinnlos, so dass wir uns beklagen müssen, wir hätten nichts vom Leben.

Dabei wurde mir auch klar: "Wer etwas vom Leben haben will, muss dem Leben etwas geben." Später habe ich Menschen kennen gelernt, die saßen da und warteten, bis das "Leben" zu ihnen kam. Und so saßen sie und warteten vergeblich und hatten nichts von ihrem Leben. Von anderen hatte ich den Eindruck: Die waren immer auf der Jagd. Auf der Jagd nach neuen Erlebnissen, auf der Jagd nach Besitztümern, auf der Jagd nach Rekorden, auf der Jagd nach Selbstbestätigung. Und haben dabei neidisch nach anderen geschielt, bei denen alles viel leichter ging und die sich noch mehr leisten konnten. Ob sie etwas von ihrem Leben hatten? Umgekehrt kenne ich auch Leute, die brauchen weder zu warten noch zu jagen, die sind so beschäftigt, dass sie gar keine Zeit haben drüber nachzudenken, was sie vom Leben haben. Sie engagieren sich, bringen sich ein und haben auch dann genug zu tun, wenn sie keine bezahlte Arbeit haben.

Jesus verspricht uns "Leben und volles Genüge."

Das heißt zunächst mal: ein erfülltes Dasein. Jesus selbst hat's vorgemacht: Ich weiß nicht, ob er von seiner Zimmermannsarbeit leben konnte. Denn auch damals gab's viele Arbeitslose. Von seiner Schriftgelehrsamkeit konnte er erst recht nicht leben, Rabbi war ein Ehrenamt. Trotzdem hatte Jesus alle Hände voll zu tun. Er hat sich für andere eingesetzt, hat Kranke geheilt, den Armen Hoffnung gemacht und Gescheiterte wieder zurecht gebracht. Und mit seiner Botschaft vom Reich Gottes die Mächtigen verärgert, was ihn schließlich das Leben gekostet hat. Er starb mit ein paar und dreißig, auch nach damaligen Begriffen viel zu jung. Was hatte er von diesem kurzen Leben? Wer ihn kennt, weiß: Er hatte nicht nur "was vom Leben", sondern er hatte "das Leben" und hat es anderen weitergegeben, ja er sagte von sich: "Ich bin das Leben." (Johannes 11,25; 14,6).

Damit meinte er nicht nur ein erfülltes Leben, mit dem Gott, die anderen und wir selbst zufrieden sein können. Ihm ging's um die Grundsatzfrage, die damals viele Menschen beschäftigt hat: Was hat das Leben für einen Sinn, wenn es doch einmal ein Ende hat? Herr Raffke kapiert vielleicht eines Tages, dass sein letztes Kleid keine Taschen hat und er nichts mitnehmen kann. Die sich engagieren, fragen sich vielleicht eines Tages: Was habe ich eigentlich bewirkt? Ich habe meine Zeit sinnvoll verbracht, ja. Ich habe manchen Menschen helfen können. Auch richtig. Aber manchmal habe ich nicht mehr getan als mir und anderen die Zeit zu vertreiben. Oft brachten meine Versuche zu helfen keine sichtbaren Ergebnisse. Vieles, von dem, was einmal gut war, war später doch nicht so gut, ist aus dem Gleis gelaufen oder wurde von etwas Besserem abgelöst. Und wie viele haben erleben müssen, dass alles, wofür sie sich eingesetzt hatten, über Nacht zunichte gemacht wurde.

Jesus will uns ein Leben schenken, das durch den Tod nicht in Frage gestellt werden kann, das über den Tod hinausreicht. Das kann ich nur in dem Sinn verstehen, dass unser irdisches Leben eine Fortsetzung findet in der Welt Gottes. Vorstellen kann und brauche ich mir diese Welt nicht. Wenn ich das versuchen wollte, wäre das so, wie wenn ein Blinder von der Farbe reden würde. Ich brauche auch keine Meditationstechnik zu lernen, um mich jetzt schon in diese Welt hineinzuversetzen. Jesus hat's uns ganz einfach gemacht. Er bietet uns an: "Da hast du das Leben". Was sagt man da? "Dankeschön, ich mache gern davon Gebrauch."

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner