Auf einmal ist man Mensch

Letztens habe ich eine interessante Erfahrung gemacht, an der ich euch gerne teilhaben lassen möchte. Ich wartete morgens auf die Straßenbahn. Ungewöhnlich war, dass keine kam – weder in die Richtung, in die ich fahren wollte, noch in die andere. Nach einiger Zeit fuhren dann Ersatzbusse. Der Busfahrer erklärte, dass eine entgleiste Straßenbahn die Gleise blockierte. Ich empfand die Busfahrt physisch nicht gerade als angenehm, weil es sehr eng war. Außerdem dauerte es wegen des Berufsverkehrs extrem lang. (Ich kam eine Stunde später als geplant in Darmstadt an.)

Aber ich fand die Reaktionen der Menschen im Bus sehr interessant: Gleich als ich eingestiegen war, wurde ich von einer Frau in meiner Nähe darauf hingewiesen, dass hinter ihr ein Kind steht, das wir nicht zerdrücken sollen. Ein Mann schimpfte auf die Verkehrsgesellschaft und betonte, dass er in Zukunft mit dem Auto fahren werde, wenn seine Jahreskarte abgelaufen ist. Irgendwann meldete sich besagtes Kind, weil es Angst hatte, nicht rechtzeitig zur Tür zu gelangen, um auszusteigen.

Aber ansonsten nahmen es alle mit erstaunlich viel Humor. Man witzelte, wie schön es wäre, wenn jemand Brötchen und eine Thermoskanne Kaffee dabei hätte. Hin und wieder wurde spekuliert, ob man in Darmstadt diesen oder jenen Zug erreichen kann. Eine Schülerin musste feststellen, dass sie wohl zu spät kommt, um ihr Referat zu halten. Und als wir an der entgleisten Straßenbahn vorbeifuhren, wurden eifrig Fotos gemacht – auch die anderen Passagiere wurden verewigt. Wir sahen auch diejenigen, die wohl in den entgleisten Wagen gesessen hatten und jetzt seit einiger Zeit am Straßenrand warteten. Ich fand es sehr erstaunlich, dass sie lachten und winkten, als sie uns im Bus sahen, obwohl sie merkten, dass für sie kein Platz mehr war.

Ich kam letztendlich zwar ziemlich spät zu meiner Vorlesung, aber ich freue mich über diese Erfahrung. Ich hatte Kontakt zu wildfremden Menschen und nahm Anteil an ihren Problemen, wie z.B. der Schülerin mit dem Referat. Schade, dass es eine entgleiste Straßenbahn braucht, um uns auf die Bedürfnisse unserer Mitmenschen hinzuweisen.

Kathrin Tischner