Andacht Dezember 2008

Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Jesaja 66,13)

Liebe Leserin, lieber Leser,

ein rührendes Bild: Ein Kind fängt an zu weinen und läuft zu seiner Mutter. Die nimmt es auf den Arm, das Kind schmiegt sich an sie und weint weiter. Die Mutter streicht ihm über den Kopf und sagt: "Alles wird wieder gut." Die körperliche Nähe, die zarte Berührung mit der Hand, die vertraute Stimme bewirken ein kleines Wunder: Die Tränen versiegen, Traurigkeit und Schmerz weichen, neuer Lebensmut kehrt zurück.

Manchmal möchte ich mich so an Gott kuscheln und mich von ihm trösten lassen. Das geht leider nicht, denn Gott hat keinen Körper, an den ich mich anschmiegen kann, keine Arme, die mich hoch heben, keine Hände, die mich streichen – eigentlich kann er mich gar nicht trösten, wie mich meine Mama getröstet hat. Das sind alles nur Bilder.

"Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet" ist ja ein kühnes Bild, ganz anders als die Vorstellungen, die wir uns von Gott gemacht haben. Und auch ein ungewöhnliches Bild, weil das biblische Wort für "Trost" weit über das hinausgeht, was wir uns heute darunter vorstellen. Konkret geht's in diesem Text um die zerstörte und entvölkerte Stadt Jerusalem. Sie war von den Babyloniern zerstört worden, die Überlebenden wurden nach Babylonien deportiert. Jahrzehnte später kehrten ein paar Familien voller Hoffnung zurück, um die Ruinen mit neuem Leben zu erfüllen. Was sie dort vorfanden, war zum Heulen, die Lebensumstände erbärmlich. Da konnte man leicht den Mut verlieren. In diese Trostlosigkeit hinein spricht der Prophet im Namen Gottes: "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Es galt die Menschen aus ihrer Lethargie aufzurütteln und Zukunftschancen aufzuzeigen. Wie Barack Obama, der mit den Worten "Wir werden es schaffen" einer ganzen Nation wieder neue Hoffnung gab.

Am Ende der Bibel stehen ähnliche Worte wie im Monatsspruch: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen", wie eine tröstende Mutter. Aber er sagt dann nicht. "Alles wird wieder gut", sondern: "Alles ist wieder gut." Tränen in den Augen wirken wie ein beschlagene Brille: Wir sehen damit die Wirklichkeit verzerrt. Da muss man sich schon selbst die Tränen abputzen oder sie abwischen lassen, um klar zu sehen: Es gibt eine Perspektive für unsre Zukunft. Eine zerstörte Stadt kann man wieder aufbauen. Mit Behinderungen kann man leben. Über Verluste kann man hinwegkommen. Unser Leben ist nicht das, was Andere, sondern was wir selbst daraus machen. Gott wischt die Tränen ab, weil er mit uns etwas vorhat. Nur mit klaren Augen und klarem Kopf können wir erkennen, dass er uns führen will. Wenn wir uns auf ihn verlassen, gibt er uns Tag für Tag die Kraft, die wir brauchen.

"Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen", das wird er tun, wenn wir am Ziel angelangt sind. Klare Augen und einen klaren Kopf brauchen wir auch, wenn wir auf unsern Weg zurückblicken. Den Sinn unsres Wegs erkennen wir oft nur aus der Rückschau. Wir mussten Umwege gehen? Warum hat er uns nicht direkt zum Ziel geführt? Weil wie im täglichen Leben nicht jede Straße passierbar ist. Bauarbeiten, Unfall, Überschwemmung, was weiß ich – Umleitungen haben einen Sinn. Der Weg war alles andere als bequem, steil und steinig, keine Autobahn, auf der man flitzen kann. Warum hat er's uns so schwer gemacht? Weil der Weg nach oben steil ist, sonst wachsen wir nicht über uns selbst hinaus. Aber wenn wir oben sind, sind alle Mühen vergessen. Wir genießen die gute Luft, die schöne Aussicht – und den freien Blick in den Himmel.

Lass dir die Tränen abwischen, liebe Leserin, lieber Leser, damit du Gottes Weg erkennen kannst.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner