Monatsspruch März 2009

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr. (3. Mose/Levitikus 19,18)

Liebe Leserin, lieber Leser,

Es ist viel einfacher, sich an ein Verbot als ein Gebot zu halten. "Du sollst nicht bei Rot über die Ampel fahren", "du sollst nicht spicken", wenn wir das einmal erst begriffen und uns zu Eigen gemacht haben, dann geht das fast automatisch, wir brauchen nicht lange darüber nachzudenken. Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht.

Sehr viel schwerer ist es mit dem Liebesgebot. Das wird uns nur in den seltensten Fällen automatisch von der Hand gehen, etwa wenn es gilt, Leben zu retten. Meist müssen wir uns jedesmal neu überlegen: "Was könnte Nächstenliebe im Umgang mit diesem Menschen von mir fordern?" Da kann es keine Rezepte geben, die wir immer und überall anwenden können. Beispiel: Wie gehen wir mit Trauernden um? Sollen wir reden? Aber was? Schematisch fromme Worte aufsagen kann genauso falsch sein wie die üblichen Floskeln, mit denen wir das Unbegreifliche zu deuten versuchen. Auch gar nichts sagen kann falsch sein. Es kann aber gemeinsames Schweigen so hilfreich sein wie verständnisvolles Reden und Zuhören. Da brauchen wir Fingerspitzengefühl, keine Lehrbuchweisheiten.

Jesus hat daher das Liebesgebot an mehreren Stellen erläutert:

  1. Unter dem "Nächsten" ist zunächst der Volks- und Glaubensgenosse zu verstehen. Also Juden brauchen bloß Juden zu lieben und nicht die Protestanten, Evangelische bloß Evangelische und nicht die Piusbrüder, Piusbrüder bloß Piusbrüder und nicht die Juden. Oder? Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) hat Jesus diesen Begriff erweitert: Der Nächste ist der Mitmensch, mit dem ich gerade zu tun habe, ohne nach Pass und Gesangbuch zu fragen.
  2. Was bedeutet "lieben wie dich selbst"?
    a) Das Problem ist doch: Es gibt Menschen, die können sich selbst nicht leiden und lieben tatsächlich ihre Mitmenschen wie sich selbst, nämlich überhaupt nicht. Sie sind anderen gegenüber rechte Ekel. Können wir uns selbst zum Maßstab für die Nächstenliebe machen? Nein. Deshalb hat Jesus dieses Gebot umformuliert: "Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe" (Johannes 15,12). Nicht unsere Selbstliebe ist das Vorbild, sondern die Liebe Jesu. Und die ist bis zum Äußersten gegangen: "Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde" (Johannes 15,13).
    b) Damit ist zugleich die Frage beantwortet: "Wie weit sollen wir mit unsrer Liebe gehen? 'Wie dich selbst' ist doch etwas anderes als 'mehr als dich selbst'". Diese spitzfindige Auslegung erinnert mich an die Frage von Petrus: "Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben? Sieben Mal müssten eigentlich reichen." Aber Jesus fordert die grenzenlose Vergebung, "siebzig mal sieben mal". (Matthäus 18,21.22). So kennt auch die Liebe keine Grenzen und kann gehen bis zur Selbstverleugnung (Matthäus 16,24). Liebe ist nicht selbstbezogen, sondern selbstlos, mach Jesus uns klar. Es kann sich also keiner herausreden mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb, der sagt: "Jetzt ist es aber Schluss mit der Liebe."
  3. Wie können wir jemand lieben, den wir nicht leiden können? Genau das fordert Jesus aber in seinem Gebot der Feindesliebe (Matthäus 5,44). Auch diese Frage ist falsch gestellt: Wer von der Liebe Gottes erfüllt ist, kann niemand hassen. Unter dieser Voraussetzung können wir auch Verständnis, vielleicht sogar Sympathie aufbringen für die, die uns Schwierigkeiten machen.

Nächstenliebe hat nichts mit Gefühlen zu tun, sondern mit unserm Tun. Wir sollen alle Menschen anständig behandeln, ihnen Gutes tun und helfen, wo es nötig ist. Das können wir uns deutlich machen an Jesu Doppelgebot: "Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen… und deinen Nächsten wie dich selbst" (Marlis 12,30.31). Was unsern Mitmenschen zusteht, sind nicht Gefühle, sondern eine positive Grundeinstellung und entsprechendes Verhalten. Dagegen hat Gott Anspruch darauf, dass wir ihn lieben von ganzem Herzen. Das ist der Unterschied.

Nun hat glühende Gottesliebe ja auch zu Fanatismus und Verbrechen geführt. Darum bewundere ich die Klugheit Jesu, dass er die Gottesliebe an die Nächstenliebe koppelt: Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Wir dürfen nicht einseitig Gott lieben und den Nächsten aus dem Auge verlieren. Christliche Fanatiker, Gewalttäter und Antisemiten können sich nicht auf Jesus berufen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner