Liebe Leserin, lieber Leser,
Es ist viel einfacher, sich an ein Verbot als ein Gebot zu
halten. "Du sollst nicht bei Rot über die Ampel fahren", "du sollst
nicht spicken", wenn wir das einmal erst begriffen und uns zu Eigen
gemacht haben, dann geht das fast automatisch, wir brauchen nicht
lange darüber nachzudenken. Es gibt Dinge, die tut man einfach
nicht.
Sehr viel schwerer ist es mit dem Liebesgebot. Das wird uns nur in
den seltensten Fällen automatisch von der Hand gehen, etwa wenn es
gilt, Leben zu retten. Meist müssen wir uns jedesmal neu überlegen:
"Was könnte Nächstenliebe im Umgang mit diesem Menschen von mir
fordern?" Da kann es keine Rezepte geben, die wir immer und überall
anwenden können. Beispiel: Wie gehen wir mit Trauernden um? Sollen
wir reden? Aber was? Schematisch fromme Worte aufsagen kann genauso
falsch sein wie die üblichen Floskeln, mit denen wir das
Unbegreifliche zu deuten versuchen. Auch gar nichts sagen kann
falsch sein. Es kann aber gemeinsames Schweigen so hilfreich sein
wie verständnisvolles Reden und Zuhören. Da brauchen wir
Fingerspitzengefühl, keine Lehrbuchweisheiten.
Jesus hat daher das Liebesgebot an mehreren Stellen erläutert:
- Unter dem "Nächsten" ist zunächst der Volks- und Glaubensgenosse
zu verstehen. Also Juden brauchen bloß Juden zu lieben und nicht die
Protestanten, Evangelische bloß Evangelische und nicht die
Piusbrüder, Piusbrüder bloß Piusbrüder und nicht die Juden. Oder? Im
Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) hat Jesus diesen
Begriff erweitert: Der Nächste ist der Mitmensch, mit dem ich gerade
zu tun habe, ohne nach Pass und Gesangbuch zu fragen.
- Was bedeutet "lieben wie dich selbst"?
a) Das Problem ist doch: Es gibt Menschen, die können sich selbst
nicht leiden und lieben tatsächlich ihre Mitmenschen wie sich
selbst, nämlich überhaupt nicht. Sie sind anderen gegenüber rechte
Ekel. Können wir uns selbst zum Maßstab für die Nächstenliebe
machen? Nein. Deshalb hat Jesus dieses Gebot umformuliert: "Das ist
mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe" (Johannes 15,12).
Nicht unsere Selbstliebe ist das Vorbild, sondern die Liebe Jesu.
Und die ist bis zum Äußersten gegangen: "Niemand hat größere Liebe
als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde" (Johannes 15,13).
b) Damit ist zugleich die Frage beantwortet: "Wie weit sollen wir
mit unsrer Liebe gehen? 'Wie dich selbst' ist doch etwas anderes als
'mehr als dich selbst'". Diese spitzfindige Auslegung erinnert mich
an die Frage von Petrus: "Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben?
Sieben Mal müssten eigentlich reichen." Aber Jesus fordert die
grenzenlose Vergebung, "siebzig mal sieben mal". (Matthäus 18,21.22). So
kennt auch die Liebe keine Grenzen und kann gehen bis zur
Selbstverleugnung (Matthäus 16,24). Liebe ist nicht selbstbezogen, sondern
selbstlos, mach Jesus uns klar. Es kann sich also keiner herausreden
mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb, der sagt: "Jetzt ist es
aber Schluss mit der Liebe."
- Wie können wir jemand lieben, den wir nicht leiden können? Genau
das fordert Jesus aber in seinem Gebot der Feindesliebe (Matthäus 5,44).
Auch diese Frage ist falsch gestellt: Wer von der Liebe Gottes
erfüllt ist, kann niemand hassen. Unter dieser Voraussetzung können
wir auch Verständnis, vielleicht sogar Sympathie aufbringen für die,
die uns Schwierigkeiten machen.
Nächstenliebe hat nichts mit Gefühlen zu tun, sondern mit unserm
Tun. Wir sollen alle Menschen anständig behandeln, ihnen Gutes tun
und helfen, wo es nötig ist. Das können wir uns deutlich machen an
Jesu Doppelgebot: "Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen… und
deinen Nächsten wie dich selbst" (Marlis 12,30.31). Was unsern
Mitmenschen zusteht, sind nicht Gefühle, sondern eine positive
Grundeinstellung und entsprechendes Verhalten. Dagegen hat Gott
Anspruch darauf, dass wir ihn lieben von ganzem Herzen. Das ist der
Unterschied.
Nun hat glühende Gottesliebe ja auch zu Fanatismus und Verbrechen
geführt. Darum bewundere ich die Klugheit Jesu, dass er die
Gottesliebe an die Nächstenliebe koppelt: Das eine ist ohne das
andere nicht zu haben. Wir dürfen nicht einseitig Gott lieben und
den Nächsten aus dem Auge verlieren. Christliche Fanatiker,
Gewalttäter und Antisemiten können sich nicht auf Jesus berufen.
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner