Monatsspruch Juni 2012

Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. (1. Korinther 15,10)

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie gut, dass wir wissen, bei wem wir uns bedanken dürfen!

Paulus hätte sagen können: "Ich habe mich aus eigener Kraft hochgearbeitet, erst im Dienst des Hohenpriesters, dann als Christ, und habe mich erneut hochgearbeitet vom gefürchteten Christenverfolger und Neubekehrten, der nichts zu sagen hat, zum anerkannten Völkerapostel." Ihm ist dabei nichts geschenkt worden. Dauernd war er unterwegs, wurde angefeindet, vertrieben, geprügelt, eingesperrt. Er hat keine Unterstützungen angenommen, sondern sich seinen Lebensunterhalt als Zeltmacher verdient und nur am Feierabend missioniert. Er hätte sich das Leben leichter machen können.

Und trotzdem bekennt er dankbar: "Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin." Ich habe viel gearbeitet, aber das Wesentliche wurde mir geschenkt. Er meint damit sein Erlebnis vor Damaskus, als ihn Christus zum bedeutendsten urchristlichen Missionar und Theologen berief (Apostelgeschichte 9).
Das war seine Berufung und sein Beruf, seine Arbeit und Lebensaufgabe. Hinter dem Wort "Berufung" steckt die Überzeugung, dass der Schöpfer jeden von uns zu einer bestimmten Aufgabe "berufen" hat. Das stelle ich mir sehr anschaulich vor: Eine Arbeitskolonne rückt morgens an. Der Vorabeiter sagt, was an diesem Tag gemacht werden muss, ruft die Leute namentlich auf und teilt ihnen ihre Arbeit zu.

Beruf und Berufung muss nicht heißen, dass wir ein ganzes Leben lang bei derselben Firma dieselbe Tätigkeit ausüben. Niemand ist dazu verdammt am Band zu stehen und niemand hat das Recht sich für den Rest seines Lebens im Glanz seiner Verdienste zu sonnen und sich auf einem gut bezahlten Chefsessel auszuruhen.

Berufung ist mehr als nur eine bestimmte Tätigkeit oder Arbeit. Sie ist ein Bild dafür, dass alles in unserm Leben einen Sinn hat:

Dass wir überhaupt auf der Welt sind, verdanken wir nicht der Familienplanung oder dem Leichtsinn unsrer Eltern. Sondern Gott hat uns ins Dasein gerufen. Er hat es gewollt, dass es dich und mich gibt, und allein deshalb hat unser Leben einen Sinn.

Unser Leben hat einen Sinn, aber den müssen wir erst mal suchen und finden. Und Gott hat für jeden von uns einen Plan, wie unser Leben verlaufen soll. Das Gute daran: Wir müssen nicht unsre Karriere planen, uns hochboxen und Doktorarbeiten fälschen. Wir brauchen keinen Ehrgeiz, sondern offene Augen und Ohren für das, was Gott mit uns vorhat.

Das kann eine Lebensaufgabe sein wie bei Paulus oder ein befristeter Auftrag wie bei Philippus, der den Befehl bekam: "Lass alles liegen und stehen und geh und auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza führt." (Apostelgeschichte 8,2) Philippus redete sich nicht heraus, dass er nicht zuständig sei und eine andere Aufgabe habe und unabkömmlich sei, sondern er fragte immer wieder neu: "Was willst du, Herr, dass ich heute tun soll?"

Das ist nicht gerade der Geschmack der heutigen Zeit. Die modernen Grundsätze lauten: "Jeder ist sein eigener Herr," obwohl wir uns ja tatsächlich auch heute an Vorschriften halten müssen und obwohl sich viele bereitwillig dem Trend der Zeit unterwerfen und dem Diktat der Mode beugen. "Jeder hat einen Anspruch auf Glück und das Recht, mit allen Kräften danach zu streben." Die Kehrseite bekommen wir nicht gesagt: Wer kein Glück hat, ist ein Versager und selbst dran schuld. Das egoistische Streben nach dem eigenen Glück macht unbarmherzig.

Da lobe ich mir die Gnade Gottes, die uns neben den anderen einen Platz in der Welt schenkt und eine Aufgabe, die unsern ganzen Einsatz und unsre ganze Kraft fordert. Ich lobe lieber zehnmal die Gnade als dass ich auch nur einmal meine eigene Kraft und mein eigenes Können. Denn letztlich sind ja auch Kraft und Können ein Geschenk Gottes, Gnade.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner