Monatsspruch Mai 2013

Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen! (Sprüche 31,8)

Liebe Leserin, lieber Leser,

unter den Patienten, die Jesus geheilt hatte, waren auffallend viele Behinderte: Gelähmte, Blinde, Taube, Stumme, dazu seelisch gestörte "Besessene" und aus der Dorfgemeinschaft verstoßene "Aussätzige". Sie waren nicht nur körperlich, sondern auch sozial schwach, mittellos und hilfsbedürftig.

Bei der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen (Johannes 9) wird deutlich, dass Blindheit nicht nur ein Augenübel ist. Denn blind ist auch, wer so auf etwas fixiert ist, dass er anderes nicht erkennen kann. Die Stummen werden nur am Rande erwähnt. Waren es Taubstumme, die nicht sprechen gelernt hatten, weil sie nicht hören konnten? Oder waren das auch Menschen, denen es die Sprache verschlagen hatte, die nie zu Wort kamen, für die sich niemand interessierte und von denen niemand wissen wollte, wie es ihnen ging?

Der Monatsspruch steht im letzten Kapitel des Sprüchebuchs, ein Nachtrag mit Worten des arabischen Königs Lemuel an seinen Sohn. Lemuel ermahnt den künftigen Herrscher, nicht den Verlockungen der oberen Gesellschaftsschichten zu erliegen, nicht den Playboy zu spielen, sondern seine Verantwortung wahrzunehmen: "Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen!" Als König war er oberster Richter. Die sozial Schwachen, die nichts zu sagen hatten, werden kaum vor Gericht gegangen sein, um ihre Rechte durchzusetzen. Da musste die Verantwortlichen und besonders die Propheten die Augen aufhalten und melden, wenn den kleinen Leuten Unrecht getan wurde. Lemuels Sohn sollte als oberster Richter die Rechte der Schwachen schützen.

Das war ein Ideal, das nur selten verwirklicht wurde. Die Bibel musste den ausländischen König Lemuel bemühen, der seinen Sohn an seine königlichen Pflichten erinnerte, weil in Israel und Jerusalem wie überall auf der Welt, damals wie heute der Staatsapparat erst mal ein Selbstbedienungsladen war für die Reichen und Mächtigen und ihre Parteigänger. Die Rechte der kleinen Leute, die nichts zu sagen hatten, blieben auf der Strecke.

Und was sagte Jesus dazu? Er verhielt sich merkwürdig: Einerseits stand er auf der Seite der einfachen Menschen und "predigte den Armen die Frohe Botschaft". Andrerseits ging er den Mächtigen aus dem Weg. Der jüngere Herodes hatte sich für ihn interessiert, aber Jesus wollte mit ihm nichts zu tun haben, und als er als Gefangener vor ihm stand, schwieg er, genau wie vor dem Hohen Priester und vor Pilatus. Zugegeben, als Gefangener hatte er schlechte Karten, aber spätere Christen wie Paulus haben als Gefangene doch auch den Mund aufgemacht. Jesus verstand sich also nicht als Sprachrohr der Schwachen.

Er hat seinen Jüngern etwas anderes empfohlen:

  1. Macht euch keine Sorgen um Essen und trinken, sondern "trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen" (Matthäus 6,33).
  2. Ihr müsst auch nicht um eure Rechte kämpfen, sondern "ihr sollt nicht widerstreben dem Bösen" (Matthäus 5,39). Kämpft nicht, sondern gebt nach.
  3.  Seid bereit zu leiden und das Kreuz auf euch zu nehmen (Matthäus 16,24).

Lasst euch nicht irre machen von denen, die behaupten, sie hätten nur das eine Leben. Als Christen sind wir Bürger einer anderen Welt. Und wenn wir jetzt schon nach deren Gesetz der Liebe handeln, dann haben wir jetzt schon ein bisschen Himmel auf der Erde.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner