Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. (Matthäus 7,1)

Liebe Leserin, lieber Leser,

auch im Dezember möchte ich Jesus selbst zu Wort kommen lassen. Da Gott allein unser Richter ist, haben wir kein Recht, andere zu verurteilen.

Wie ernst es Jesus damit war, erkennen wir, dass er zweimal abgelehnt hat, als Straf- oder Zivilrichter tätig zu werden. Obwohl das doch die Aufgabe eines Gesetzeslehrer ("Rabbi") war, hat er sich geweigert, eine Ehebrecherin zum Tod zu verurteilen oder freizusprechen (Johannes 8,1-11) und bei einem Erbstreit eine Entscheidung zu fällen (Lukas 12,13-15). Stattdessen erinnert er daran, dass keiner von uns ohne Sünde ist, mahnt zur Barmherzigkeit und warnt vor Habgier.

Normalerweise machen wir das anders: Mit der Arbeit eines Mitarbeiters ist jemand unzufrieden. Was tut man da? Man beschwert sich - nicht beim Vorgesetzten, denn petzen ist unfair. Nein, er hetzt andere auf und dann fallen sie über ihn her: "Da liegt Staub! Da ist was falsch! Fünf Minuten zu spät gekommen…", eine lange Liste von Missetaten. Und das kriegt der Mitarbeiter ein paar Mal in der Woche von Hinz und Kunz zu hören. Das ist kein Einzelfall. Darf denn jeder an jedem rummeckern? Das ist Sache des Vorgesetzten und von sonst niemand. Nur der Chef kann entscheiden, ob der Mitarbeiter wirklich unzuverlässig ist. Nur der Richter darf entscheiden, ob der Verdächtigte schuld ist. Sogar die Polizei braucht eine Genehmigung für eine Verhaftung oder Hausdurchsuchung. Aber wir kleinen Leute meinen: "Das machen wir unter uns ab." Die Meckerer sitzen erst mal am längeren Hebel, denn der Gemobbte kann sich kaum wehren, ärgert sich und vergeudet Kraft und Zeit statt gute Arbeit zu leisten.

Es sind aber nicht nur die kleinen Leute, die meckern. Die Großen machen's uns ja vor: Man wirft "Schurkenstaaten" Verletzungen der Menschenrechte vor, ist sich aber nicht zu fein mit ihnen Geschäfte zu machen. Sogar die Kirchen spielen mit und fordern unablässig, man müsse "Unrecht beim Namen nennen" und "anprangern". Ist das nicht Anmaßung und Hochmut? Wer gibt uns das Recht dazu?

Aber die biblischen Propheten haben doch auch kritisiert, oder? In der 1500-jährigen Geschichte des Alten Testaments werden gerade mal 65 Leute Propheten oder Prophetinnen im weitesten Sinn genannt und nur von einem wissen wir, dass er sich freiwillig gemeldet hat (Jesaja), die anderen wurden berufen oder haben sich gar gegen die Berufung gewehrt (Mose, Jeremia, Jona). Prophet sein und im Namen Gottes Unrecht anprangern zu müssen ist nicht jedermanns Sache.

Jesus verbietet uns das "Richten" und Kritisieren und Meckern, weil wir alle dem Urteil Gottes unterstehen. Nicht nur, weil wir selber Dreck am Stecken haben oder es auch nicht besser können als der Kritisierte, sondern weil wir aus unsrer Froschperspektive gar keinen Überblick haben. Ich weiß nicht, wie gut oder schlecht ein Frosch sieht, aber um sachgerecht urteilen zu können bräuchten wir nicht Adleraugen, sondern Adlerflügel. Nur aus gehörigem Abstand haben wir einen Überblick und erkennen, wie die Dinge zusammenhängen: Die Katastrophe von Fukushima war erst mal schlecht, hat uns aber die Augen geöffnet für die Risiken der Kernenergie, das war gut, und die Folgerung der Energiewende auch. Sie war aber wohl etwas übereilt, und das war vielleicht nicht so gut… Erst am Ende werden wir wissen, was richtig und was falsch war. Die Erfahrung lehrt, dass wir überhaupt keine Ahnung haben, was auf die Dauer gut ist. Uns fehlt der Überblick.

Apropos Adleraugen: "Die Liebe deckt der Sünden Menge" und ist bereit zu leiden, zu verstehen, zu dulden und zu vergeben. Wir müssen gar nicht alles mit Adleraugen sehen. Besser ist es, die Welt mit Gottes Augen zu betrachten, mit den Augen der Liebe.

Herr Jesus, komm vom Himmel auf die Erde zurück, in unser Leben, in unsre Welt, und fang mit uns neu an das Reich Gottes Wirklichkeit werden zu lassen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner