Monatsspruch September 2018

Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. (Prediger 3,11)

Liebe Leserin, lieber Leser,

kürzlich musste ich nachts ins Krankenhaus. Irgendwann wachte ich auf. Ab und zu kam eine Schwester, sonst geschah wenig. Ich hatte keine Uhr dabei und versuchte mir nach den Schatten draußen ein Bild zu machen, wie spät es war, aber ich konnte die Himmelsrichtungen nicht erkennen. Nach meinem Gefühl war's schon Nachmittag, als das Frühstück kam. Mittagessen gab's erst abends. Dann kam meine Frau. "Wie spät ist's denn?" - "Halb eins." - Wenn nichts geschieht, dehnt sich die Zeit endlos; wir haben lange Weile. Wenn viel los ist, vergeht die Zeit kurzweilig wie im Flug. Wir versuchen die endlose leere Zeit zu vertreiben, indem wir uns beschäftigen, und den flüchtigen Augenblick festzuhalten durch Tagebuch, Foto, Film.

Auch der "Prediger Salomo", der Philosoph im Alten Testament, macht sich Gedanken über die Zeit. Er stellt nebeneinander den richtigen Augenblick "zu seiner Zeit" und die lange Dauer, die "Ewigkeit". Am Anfang, als Gott die Welt erschaffen hatte, fand er alles "sehr gut" (1. Mose 1,31) und kurz darauf stellte der fest, dass doch nicht alles gut war: "Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei", er braucht Gesellschaft (2,18), und da kommt sogar der Allmächtige ins Schwitzen, weil das nicht auf Anhieb klappt. Und schließlich stellt er fest, dass der Wurm bzw. die Schlange drin war in seinem Paradies. (Kapitel 3). Gott, ein Stümper? Nein, alles ist gut und "schön zu seiner Zeit", aber der Zeiger dreht sich weiter und die Dinge und Verhältnisse laufen aus dem Ruder.

Das kennst du doch auch, da meint man's gut und tut sein Bestes - und hinterher war's grad falsch und alles für die Katz. Ich hatte einmal mit jemand einen Riesenkrach, der hätte sich mit ein bisschen Diplomatie vermeiden lassen, aber hinterher verstanden wir uns prächtig. Und ich habe mal jemand mein Vertrauen geschenkt und hinterher gab's einen Riesenkrach, den ich mit mehr Vorsicht hätte vermeiden können. War's richtig, war's falsch? War's richtig, war's falsch, wie sich Gott "alles so schön" ausgedacht hatte?

Wir leben, denken und handeln nur aus dem Augenblick heraus, "zu seiner Zeit", aber dann nehmen die Dinge ihren Lauf und entwickeln sich anders als gedacht, zum Besseren oder zum Schlechteren. Das haben wir dann nicht mehr in der Hand. Aber der Ewige müsste das doch hinkriegen! In der Ewigkeit, aber nicht in der Zeit. Als Gott in die Zeit kam und Mensch wurde, musste er sterben. Am Kreuz!

Neulich schrieb mich jemand an, der versuchte mir zu beweisen, dass es Vergangenheit und Zukunft gar nicht gibt, "weil wir hier vom Jetzt sprechen, der ewige Moment des Jetzt". Nach dem, was ich eben geschrieben habe, könnte er recht haben. Ich habe ihm aber widersprochen. Wir können nicht tun, als gäbe es nur das Hier und Jetzt. Ich habe meine Erinnerungen an mehr als sieben Jahrzehnte Vergangenheit und meine Pläne für die nächste Zukunft. Oder mit den Worten des predigenden Philosophen: "Auch hat Gott die Ewigkeit in unser Herz gelegt", das heißt zunächst: den Überblick über eine längere Zeit. Beim Lesen konzentriere ich mich ganz auf den Text und merke manchmal gar nicht, was um mich herum geschieht. Aber ich starre nicht "ewig" auf einen Buchstaben, sondern scanne mit den Augen die Zeilen ab und versuche zu verstehen, was da geschrieben steht. Und wenn ich durch bin, habe ich einen Überblick über den Artikel oder den ganzen Roman.

Was sich wohl eine Kuh denkt, wenn sie den lieben langen Tag auf der Weide ist und nichts anderes zu tun hat als zu fressen, wiederkäuen und verdauen? Lebt sie nur aus dem Augenblick, oder hat sie Erinnerungen an ihren Stall, ihre Mutter, den Bauern, den sie doch erkennt und begrüßt? Hofft sie, dass bald jemand kommt und sie melkt? So ein bisschen Zeitgefühl wird auch ein "dummes Rindvieh" haben.

Und Gottes Ewigkeit? "Ist unergründlich", schreibt der Prediger. "Finger weg", sagen die einen. "Bete das unergründliche Geheimnis des Glaubens an, aber versuche es nicht mit deinem Verstand zu ergründen." - "Finger weg", sagen die andern. "Wir leben im Hier und Jetzt. Flieh nicht in eine Scheinwelt, stell dich den Tatsachen und geh mit der Zeit." Ich aber lasse mir weder den Mund verbieten noch das Denken. Wenn Gott auch mir die "Ewigkeit in Herz gelegt hat", darf ich auch drüber nachdenken und schreiben. Auch wenn ich sie nicht ergründen kann. Ich muss ja nicht bis auf den Grund tauchen. Aber ich kann doch wenigstens die Füße in Gottes Liebe baden.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner