Monatsspruch Juni 2021

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. (Apostelgeschichte 5,29)

Liebe Leserin, lieber Leser,

man schreibt das Jahr 1521. Am 18. April steht in Worms ein gewisser Bruder Martin vor einem kaiserlichen Gericht, weil er es gewagt hat, dem Papst öffentlich zu widersprechen. Der Papst hat ihn schon aus der Kirche ausgeschlossen, nun sollen ihm auch noch die Menschenrechte aberkannt werden. Eigentlich eine Routinesache, zu der der Angeklagte gar nicht gehört werden muss. Der Kaiser gibt dem aufmüpfigen Geistlichen noch eine Chance: Er soll alles widerrufen. Seine kaiserliche Majestät ist ja schließlich kein Unmensch. Antwort: "Ich bin bereit zu widerrufen, wenn ihr mir anhand der Bibel nachweist, dass ich im Unrecht bin. Papst und Kirchenversammlungen können irren; ich beuge mich nicht der Mehrheit oder der Autorität, weil es weder gut noch ratsam ist, gegen sein Gewissen zu handeln." Ergebnis: Dem Bruder Martin Luther wurden die Menschenrechte aberkannt (was weiter keine Folgen hatte) - und nach langen Auseinandersetzungen wurde das Prinzip der Gewissensfreiheit gesetzlich verankert und ist aus unsrem Recht nicht mehr wegzudenken.

"Gehorsam macht frei" hieß es in der Nazizeit: Wenn du dich an die Vorschriften hältst, kannst du frei entscheiden und musst nicht jedes Mal fragen, ob du darfst. Das war kein Nazi-Schweinkram, sondern ist auch heute noch selbstverständlich. Beispiel: Wenn du einen Führerschein und ein Auto hast und die Verkehrsregeln beherzigst, kannst du fahren, wohin du willst.

In meiner Jugend lernte ich "Gott gehorchen macht frei". Beispiel: Luther in Worms. Er behauptete, dass der vom Papst gebotene Verkauf von Eintrittskarten für den Himmel (Ablass) allem widerspricht, was in der Bibel steht. Er durfte das sagen, weil er sich als Doktor und Professor der Theologie mit der Bibel auskannte und das Recht hatte Studenten zu unterrichten. Aber außer der Bibel galt auch der Grundsatz: "Der Chef (Bischof, Papst, Fürst, Kaiser, Arbeitgeber) hat immer recht." Was gilt im Ernstfall? Luther berief sich auf die Bibel und widersprach dem Chef. Das war eine Ausnahme und lebensgefährlich dazu. 100 Jahre vorher hatte sich der Tscheche Jan Hus ebenfalls vor dem Kaiser auf die Bibel berufen und starb auf dem Scheiterhaufen. Luther hatte Glück, weil ihn sein Landesherr schützte und weil der Kaiser das Urteil nur halbherzig fällte: Er meinte aus Staatgründen Luther verurteilen zu müssen, dachte aber im Grunde genauso. Auch der Kaiser war nicht frei. Er hatte politische Verantwortung.

Mein Vater, Handwerker, war im Krieg mal mit Befestigungsarbeiten beschäftigt. Sein Unteroffizier sagte, wie's gemacht werden sollte. Vater widersprach, weil er wusste, dass das so nicht ging. Das war Befehlsverweigerung und er wurde von weiterer Beförderung ausgeschlossen. Da stand ein törichter Befehl gegen technisches Wissen und Können. Der Offizier hat's vielleicht eingesehen, dass er im Unrecht war, aber er durfte Widerspruch nicht dulden. Das war ein ähnlicher Konflikt: Menschliche Vorschriften gegen - nicht gerade Gottes Gebot, aber gegen "Naturgesetze".

Neulich fällte das Bundesverfassungsgericht eine wegweisende Entscheidung: Das Klimaschutzgesetz muss nachgebessert werden. Wir dürfen nachfolgende Generationen nicht "die Zukunft klauen", sondern müssen, so schnell wie's geht, auf Verbrennungsenergie verzichten. Und überhaupt Rohstoffe und Energie sparen. Wir haben bisher aus dem Vollen geschöpft. "Wir ham's ja." Jetzt ist Schluss! Auch da stehen höhere Interessen gegen unsre kurzfristigen Ziele.

Das ist zwar nicht "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen." Aber es ist doch schon mal ein Fortschritt, wenn wir lernen von uns selbst abzusehen und das Gemeinwohl in den Vordergrund zu stellen. Gemeinnutz geht vor Eigennutz. "Suchet das Beste für die Stadt (das Land, die Menschheit), denn wenn's ihr gut geht, geht's euch auch gut", mahnte schon Jeremia 29,7.

Konflikte wie der meines Vaters lassen sich nicht immer vermeiden. Da ist dreierlei wichtig: 1. nicht unser Eigeninteresse, sondern das der Allgemeinheit zu sehen, 2. versuchen, den anderen zu verstehen (der kann nicht anders handeln wie der Kaiser und der Offizier), 3. im Interesse eines höheren Ziels Nachteile in Kauf nehmen (z. B. sich einschränken, weniger verbrauchen, Energie sparen).

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner