Einführung in das Neue Testament

Teil 12

Die Gnosis - 4. Irrlehre in der jungen Christenheit

Wesen der Gnosis

Die Gnosis lehrt den grundsätzlichen Dualismus zwischen der Welt (ganz gleich, ob sie nun Selbstentfaltung des Göttlichen oder Werk eines bösen Demiurgen ist) und einem Göttlichen in ihr, das allein berufen ist, einmal am Ende der Welt, zu seinem Ursprung zurückzukehren.

Dieses Göttliche ist der Wesenskern des Gnostikers. Der Kreislauf des Werdens umfasst den ganzen Kosmos, einschließlich seiner höchsten Sphäre, der reinen Region des Äthers und der Sterne.

Für den Menschen bedeutet das, dass die Welt das Göttliche in ihr so umgarnt hat, dass es seine Heimat und sein wahres Wesen vergessen hat und sich nicht selbst aus dem Zauberbann der Welt befreien kann. Nur etwas von Außen kommendes kann den göttlichen Teil im Menschen
aus seinem Todesschlaf wecken.

Damit wird ein weiterer Wesenszug der Gnosis deutlich: Es gibt im Menschen einen göttlichen Kern (den Lichtfunken), der in der Finsternis gefangen ist, dem die Welt (die Materie) feindlich gegenüber steht und dem sie keine Möglichkeit gibt, sich von ihr ohne fremde Hilfe zu befreien.

Das Wesen der Gnosis ist also, dass der göttliche Kern des Menschen nicht imstande ist, sich selbst aus dem Bann der Welt zu befreien bzw. sich selbst zu erlösen. Die Erlösung kommt nur zustande durch Gnosis (durch die magisch ritualisierte Erlösung). Das Göttliche im Menschen, das durch Schlaf und Betäubung sich selbst vergessen hat und nichts mehr weiß von seinem wahren Wesen, muss geweckt werden und dadurch zum Bewusstsein seiner selbst kommen und damit zugleich zur Wiedererkenntnis der göttlichen Welt. Dazu gibt es jedoch keine irgendwie geartete innerweltliche Möglichkeit, denn diese Welt ist ja stofflich und damit schon böse an sich. Nur durch einen von außen herangetragenen Ruf kann der Schlaf und die Betäubung durchbrochen werden. Das schon vorhandene Göttliche im Menschen wird durch den von außen kommenden Ruf zum Schwingen gebracht wie eine Seite die stumm bliebe, wenn sie nicht durch äußere Einwirkung zum Schwingen käme und erst danach einen Ton von sich geben kann. Das Urwissen (der vorhandene Lichtfunke im Menschen) muss wieder er-weckt werden.

Die Gnosis wendet sich also tiefer als nur an das bewusste Denken im Menschen und an seinen bewussten Willen. Sie zielt auf das Göttliche in ihm, und das ist dort schon vorhanden gewesen. Es musste nur in ihm geweckt, nicht hineingetragen werden.

Es gibt zwei Auffassungen vom Rufer bzw. Erlöser

  1. Der Urmensch
    Der Urmensch zeigt sich in einer Doppelrolle bzw. Doppelfunktion. Er ist Erlöster und Erlöser zugleich. Er ist das Symbol, das den Ruf an die Menschen enthält. Dabei ist er seinem wahren Wesen nach nicht der Welt zugehörig. Als solcher (prototypisch Erlöster) ist er zugleich Erlöser. Seine Form des Daseins ist die erlösende Kunde. Das will sagen, indem der Mensch vom erlösten Erlöser vernimmt, ist er erlöst.
  2. Jesus von Nazareth
    Es gibt jedoch noch die andere Auffassung von dem Ereignis der erlösenden Kunde, des erlösenden Rufes zur Selbsterkenntnis. Es ist die des personenhaften Trägers des Rufers. Die Mächte der Welt können ihn nicht in ihren Bann ziehen, weil sie ihn nicht erkennen. Diese Aufgabe dieses so unerkannt in die Welt gekommenen Erlösers ist: Träger des erlösenden Rufes zu sein.
    Hier wird jetzt deutlich, weshalb die Gnosis sich hauptsächlich im jungen Christentum so breit entfalten konnte. Das Christentum, die junge Kirche, die Urkirche hatte ja die überragende Gestalt, beziehungsweise Person. Keine mythische Gestalt vermochte das ereignishafte des erlösenden Rufers so deutlich darzustellen und begreiflich zu machen, wie die geschichtliche Person des Jesus von Nazareth.
    Gleichzeitig muss Jesus von Nazareth aber auch durch die Brille der Gnosis verstanden werden. Hier unterscheidet sie sich erheblich vom neutestamentlichen Verständnis.
    Materie ist ja in der Gnosis an sich schon böse, deshalb war Jesus von Nazareth nicht als Mensch von Fleisch und Blut auf der Erde, um seine Rufertätigkeit durchzuführen. Er war in die Materie gekommen mit einem Scheinleib (Doketismus). Er hat deshalb auch nicht den Kreuzestod erlitten. Sein Erlösungswerk vollzieht sich nach gnostischer Auffassung darin, dass er sich unbekannt und unerkannt in die Materie (sprich Welt der Finsternis) begibt und die Gnostiker an der Materie vorbei, durch ein Losungswort, das nur sie verstehen, in die Lichtwelt holt. Die Gnostiker werden ebenso unerkannt, an der Materie vorbei wie Jesus, der Rufer, im Scheinleib in die Lichtwelt geholt, wie er, der Rufer, unerkannt gekommen und gegangen ist.

Gnosis heißt also, das Wissen zu besitzen, dass ein göttlicher Kern im tiefsten Inneren des Menschen vorhanden ist, den ein außerweltlicher Rufer erweckt.

Der Gnostiker braucht somit keinen Guru oder Priester, der ihn führt oder in mythischen Praktiken einweist. Er bedarf der Erweckung seines Lichtfunkens in sich. Sein Urwissen von Gott in ihm muss erweckt werden. Ist das geschehen, dann hört er überall in der Welt die Klänge und Töne, die das erweckte Urwissen nicht mehr zum Schlafen (zur Betäubung) bringen lassen.

Die Gnosis wendet sich, wie ich schon mehrmals ausgeführt habe, weder an den Willen des Menschen und auch nicht an seinen Verstand und das Gesetz. Die Gnosis versucht, sich in das innerste Wesen und Sein des Menschen heranzutasten. Aus der Wesensart des Menschen, nämlich seiner göttlichen Wesensart heraus, soll sich sein Wissen und Tun prägen.

Edwin Suckut

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